
Das Potentzial ist vorhanden
Ein Gespräch mit dem Migrationsforscher Belachew Gebrewold über wachsende Ökonomien, das Gespenst der Migration und das Bild, das AfrikanerInnen von Europa haben. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Frank Jödicke
1978 begann der nigerianische Musiker und Yoruba-Priester Fela Kuti sein Konzert im „Haus der Kulturen der Welt“ in Berlin mit dem Satz: „All you know about Africa is wrong.“ Stimmt das immer noch?
Das ist etwas überspitzt, aber eine gewisse Wahrheit steckt dahinter. Die Menschen in Europa verfügen über wenig Information, mit Afrika beschäftigt man sich in der Schule oder der Wissenschaft kaum.
Wir sprechen zumeist ganz pauschal von „Afrika“ anstatt von einzelnen Ländern. Die ehemalige US-Vize-Präsidentschaftkandidatin Sarah Palin hielt Afrika sogar für einen Staat. Müssten wir nicht viel mehr differenzieren?
Richtig, das müssten wir. Wenn EuropäerInnen pauschale Sichtweisen haben, finde ich das überraschend, weil Europa – im Guten wie im Schlechten – wesentlich mehr Beziehungen mit Afrika hat als alle anderen Regionen der Welt. Insofern ist es erstaunlich, wie wenig EuropäerInnen über Afrika wissen. Für eine US-amerikanische Politikerin mag Afrika uninteressant sein, dass aber Donald Trump einige Länder nicht benennen konnte oder ihnen falsche Namen gab, ist natürlich auch traurig.
Wie sehen Sie den Migrationsdruck auf
Europa, mit dem etwa auch in der ös-terreichischen Politik oft argumentiert wird? Versuchen wirklich Millionen AfrikanerInnen nach Europa zu kommen? 82 Prozent der Flüchtlinge in Afrika gehen ja in Nachbarländer.
Die Nationalratswahlen 2017 waren in Österreich stark vom Thema Migration geprägt, zum Teil auch die Wahlen 2019. Da ist von einer drohenden Massenmigration die Rede und interessanterweise wird dann oft angefügt, dass man in Afrika investieren müsse, um das zu verhindern. Wenn man sich ansieht, wie viele AfrikanerInnen tatsächlich nach Europa kommen, zeigt sich ein ganz anderes Bild. Unter den zehn Hauptherkunftsnationen findet sich laut dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen nur ein afrikanisches Land: Nigeria. Ansonsten finden wir in der Liste vor allem Kriegsländer wie Syrien, Afghanistan, Irak, Ukraine, oder auch Iran und die Türkei. Daran sieht man, dass die Verknüpfung des Migrationsthemas mit Afrika vor allem politisch motiviert ist. Fakten spielen in der Politik viel zu selten eine Rolle.
Wie steht es überhaupt mit der Migrationsbereitschaft in Afrika?
Die Migrationsbereitschaft – und dies belegen viele neue Studien – ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. Allerdings weniger bei sehr armen Bevölkerungsteilen, als unter den Wohlhabenden und Gebildeten. Sie sind bereit neue Länder und andere Kulturen kennenzulernen. Ich denke, das ist nichts typisch „afrikanisches“. Das Ziel dieser Leute ist nicht nur Europa, sondern auch andere Länder in Afrika. Wenn wir uns die Geschichte Europas im 19. Jahrhundert anschauen, dann sehen wir, dass vor allem aus Deutschland Gebildete und nicht Hungernde in die USA ausgewandert sind.
Afrikanische Staaten verhandeln schon länger darüber, eine gemeinsame Freihandelszone einzurichten. Glauben Sie, dass das dem Vorhaben der EU, in Afrika Migrations-Kontroll-Regime zu errichten, zuwiderläuft?
Es gibt seit den 1990er-Jahren Bemühungen der „Organisation für Afrikanische Einheit“, die heute „Afrikanische Union“ heißt, eine gemeinsame Migrationspolitik zu erreichen. Seit 2006 gibt es einen Migrationsrahmen, 2017 versuchte man bei einem Treffen zu klären, wie Freizügigkeit und die Abschaffung von Visapflichten zwischen den Ländern zu erreichen ist. Die Anzahl afrikanischer Staaten, die bei der Einreise kein Visum mehr verlangen, ist in den vergangenen zwei, drei Jahren massiv gestiegen. Seit wenigen Monaten existiert eine Freihandelszone (Contintental Free Trade Area), in der die Migrations- und Wirtschaftspolitik mit Freihandel kombiniert werden soll. Man orientiert sich dabei an den vier europäischen Freiheiten, also Freizügigkeit von Kapital, Personen, Gütern und Dienstleistungen. Es passiert also wirklich sehr viel, nur in Europa liest man darüber nichts.
Worüber man schon lesen kann, ist etwa das Engagement Chinas in Afrika, ein Konkurrent Europas, für den demokratiepolitische Standards kein Thema sind. Wie sehen Sie das?
Die Situation ist zweifellos komplexer geworden, aber AfrikanerInnen sehen das auch als Chance. Das europäische Monopol fällt damit weg. Europa hat während des Kalten Krieges selbstverständlich mit Diktatoren kooperiert, nach dem Sieg des Kapitalismus dachte man, jetzt könne man selbst die Regeln vorgeben. Demokratisierung wurde als Bedingung für Investitionen gefordert. Schon seit den 1990er-Jahren sieht China darin eine gute Chance und ist sehr aktiv. Natürlich hat zum Beispiel Frankreich seine Vormachtstellung in Senegal, Elfenbeinküste und allen ehemaligen französischen Kolonien aufrechterhalten, aber Europa hat langsam das Interesse verloren. Das Handelsvolumen von China ist auf etwa 200 Milliarden Dollar massiv gestiegen, das der USA hat sich auf 45 Milliarden halbiert. Die wichtigsten europäischen Länder bewegen sich bei einem Volumen von rund 50 Milliarden Euro. Das zeigt, dass China ein sehr wichtiger Handelspartner geworden ist. Andere, wie Japan, Katar, Saudi Arabien und auch Russland drängen nach. Beim russisch-afrikanischen Gipfel in Sotchi wurden mit 19 Ländern militärische Kooperationen verhandelt es ging vor allem Waffenlieferungen. So ist die Situation: Die USA zeigen wenig Interesse, China wird mächtig und die Afrikaner sind billig – so lassen sich Kooperationen diversifizieren. Das kann eine Chance für Investitionen sein, ist aber auch eine Gefahr: Diktaturen, die bei europäischen Staaten abblitzen, haben nun auch andere Kooperationspartner.
Wie beurteilen Sie gutgemeinte Hilfe für Afrika, die aber den regionalen Märkten zusetzt? Da gibt es etwa diese Schuhfirma, die beim Kauf eines Paares verspricht, ein weiteres an notleidende Kinder in Afrika zu schicken. Braucht man Gratisschuhe aus Übersee?
Die billigen Waren aus dem Ausland sind ein Problem. Einige Länder wie Äthiopien haben mittlerweile verboten, massenhaft Geschenkartikel zu importieren. Das Bewusstsein dafür, dass der heimische Markt auf diese Weise geschädigt wird, entsteht aber erst. Das Dilemma für Teile afrikanischer Bevölkerungen ist aber, dass tatsächlich das Geld fehlt, um bestimmte Waren zu kaufen. Dann ist man über solche Zuwendungen natürlich froh, etwa auch über Medikamente, die von NGOs oder kirchlichen Einrichtungen, die Krankenhäuser betreiben, zur Verfügung gestellt werden. Wenn die Wirtschaft wächst, so wie in vielen afrikanischen Staaten, dann verbessert sich die Lage aber. Jüngste Statistiken zeigen: Sechs der zehn am schnellsten wachsenden Wirtschaften sind in Afrika, das Potenzial ist also vorhanden.
Noch eine Frage zu Klischees, gibt es eigentlich auch welche von Afrikanern und Afrikanerinnen über Europa?
Ja, das hängt aber von der sozialen Schicht ab. Ich würde drei Ebenen unterscheiden: Erstens, die einfache Bevölkerung, die nur Grundschulbildung hat, die sieht das schöne und reiche Europa im Internet. Das ist ein stark verzerrtes Bild, in dem die sozialen Probleme für AfrikanerInnen unterschätzt werden. Zweitens, die Intellektuellen sind mit der Kolonialgeschichte und den politischen Beziehungen vertraut, sie sehen die europäische Politik gegenüber Afrika immer noch als kolonialistisch und herablassend an. Drittens, die politischen Entscheidungsträger, sie meinen, wir arbeiten mit den Europäern zusammen, aber nur zu unserem Nutzen. Denn wenn Europa beispielsweise in Mali oder Niger militärisch präsent ist, dann sei das doch auch im eigenen Interesse. Je nach Sichtweise ist das Bild von Europa recht unterschiedlich geprägt.
Zur Person I Belachew Gebrewold wurde 1968 in Äthiopien geboren. Er studierte Politikwissenschaft und ist Professor an der Fachhochschule „MCI – Die unternehmerische Hochschule“. Er lehrt auch an der Universität Innsbruck.
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