
HS-Prof. Lauß: „Wahlrechtsausschluss ist Herausforderung für Politische Bildung an Österreichs Schulen"
Der am Zentrum für Politische Bildung der Pädagogischen Hochschule Wien lehrende Hochschul-Professor Georg Lauß konstatiert eine schwierige Situation für schulische Politische Bildung angesichts des steigenden Anteils an Jugendlichen ohne Wahlrecht. Im Folgenden sein Statement zur Pass Egal Wahl von SOS Mitmensch:
Beteiligung an demokratischen Prozessen will gelernt sein
"Da Wahlen zentrale Institutionen demokratischer Willensbildung sind, sollte die Kontroverse um den Wahlrechtsausschluss immer größerer Teile der Bevölkerung im Rahmen der Politischen Bildung in Österreichs Schulen thematisiert werden. Die “Pass Egal Wahl” von SOS Mitmensch, an der Schüler*innen jetzt auch österreichweit an einigen Schulstandorten teilnehmen können, ist aus Sicht der Politischen Bildung zu begrüßen.Denn die Beteiligung an demokratischen Prozessen will gelernt sein. Dieser Bildungsauftrag ist für Österreichs Schulen verbindlich festgelegt. Das Schulorganisationsgesetz definiert in § 2 Aufgaben der Schule: Junge Menschen sollten zu “verantwortungsbewussten Gliedern der Gesellschaft und Bürgern der demokratischen und bundesstaatlichen Republik Österreich herangebildet werden.”
Schulen zu Demokratiebildung verpflichtet - der Pass ist dabei egal
Alle Schüler*innen sollen damit von Gesetz wegen - unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft - zu Bürger*innen der österreichischen Demokratie erzogen werden. Die Ziele der Politischen Bildung werden im Unterrichtsprinzip Politische Bildung (Grundsatzerlass 2015) verbindlich festgelegt. Politische Bildung in der Schule ist verpflichtet, einen Beitrag zu Bestand und Weiterentwicklung von Demokratie und Menschenrechten zu leisten. Sie fördert Interesse an gesellschaftspolitischen Fragestellungen, zeigt demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten auf und befähigt zur sozialen Teilhabe. Der demokratischen Legitimation von politischer Macht und deren Kontrolle sowie der Gleichheit der Politischen Rechte kommen ein großer Stellenwert in der schulischen Politischen Bildung zu.
Schüler*innen sollen befähigt werden, sich handelnd in die Gestaltung ihrer Umwelt und ihres Gemeinwesens einzubringen. Das bedeutet im Sinne von Handlungskompetenz, ihre Meinungen, Werturteile und Interessen auch öffentlich zu vertreten und bewusst über die eigene Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen zu entscheiden. Wahlen sind hier ein zentrales Instrument.
Wahlaltersenkung erhöht Dringlichkeit von Demokratiebildung
Die 2007 beschlossene Senkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre bedeutete für viele junge Menschen in Österreich, dass sie, während sie an ihrer ersten politischen Wahl teilnehmen, noch eine Schule besuchen. Der schulische Auftrag zur Vorbereitung auf demokratische Wahlen hat dadurch noch einmal an Dringlichkeit gewonnen.
Diesem Umstand wird nicht zuletzt im “Lehrplan Geschichte und Politische Bildung” Rechnung getragen. Dieser sieht für die Sekundarstufe 1 bereits in der 3. Klasse ein Modul “Wahlen und Wählen” vor. Thematisiert werden hier u.a. Strategien von Wahlwerbung und die Wechselwirkungen zwischen Politik und Medien. Der Lehrplan sieht vor, das Demokratieverständnis im Zusammenhang mit Wahlen in pluralistischen Gesellschaften zu entwickeln und die Bereitschaft zur politischen Partizipation zu wecken. Grundlagen des Wahlrechts und staatsbürgerkundliche Aspekte des Wählens sollen beschrieben und im Zusammenhang mit Demokratiekonzepten diskutiert werden. Darüber hinaus soll eine Wahl simuliert werden.
Politische Bildung zwischen universalistischen Werten und realer Exklusion
Das österreichische Kompetenzmodell Politische Bildung bestimmt und beschreibt “jene durch Politische Bildung zu erwerbenden Kompetenzen, die mündige, wahlberechtigte österreichische StaatsbürgerInnen aus gesellschafts- und demokratiepolitischen Gründen während ihrer schulischen Sozialisation erwerben sollten.” In der Praxis der Politischen Bildung an vielen österreichischen Schulen trifft diese universalistische Programmatik auf die politische Wirklichkeit realer Exklusion vieler Schüler*innen von demokratischen Wahlen. Laut der Publikation “Schule und Integration” des Österreichischen Integrationsfonds besuchten im Schuljahr 2019/20 insgesamt 1.135.519 Kinder und Jugendliche eine Schule in Österreich. 17% der Schülerinnen und Schüler hatten eine ausländische Staatsbürgerschaft, in Wien waren es durchschnittlich 31%. In Wiener Bezirken wie Ottakring oder der Leopoldstadt waren es durchschnittlich fast 40 %. In einzelnen Schulen bzw. Schulklassen liegt dieser Wert mitunter deutlich darüber.
Politische Bildung stößt zunehmend an Grenzen
Die Politische Bildung steht damit vor der widersprüchlichen Situation, dass die Bedeutung demokratischer Wahlen für die Gesellschaft und jeden Einzelnen vermittelt werden muss, obwohl die Stimmen eines substanziellen Anteils von Schüler*innen in Wirklichkeit nicht abgegeben werden dürfen. Traditionelle Vermittlungskonzepte stoßen zunehmend an Grenzen. Lehrer*innen, die an vielen Wiener Schulstandorten vor ihre Klassen treten, um den Kindern und Jugendlichen klarzumachen, dass „ihre Stimme zählt“ oder zählen wird, sind mit der Situation konfrontiert, dass dies manchmal für mehr als die Hälfte der Klasse nicht zutreffend ist. Entgegen dem Ideal der meisten Schulbuchtexte, in denen Gleichheit und demokratische Partizipation beschworen werden, zählen in der real existierenden Demokratie Österreichs ihre Stimmen nicht und sind damit bedeutungslos. Die Praxis der Politischen Bildung muss diese Diskrepanz zwischen dem universalistischen (bildungs)politischen Ideal und der komplexen und diversen Realität der Schüler*innenschaft zum Ausgangspunkt für Bildungsprozesse nehmen.
Kritische Auseinandersetzung mit Wahlrechtsausschluss an Schulen geboten
Der “Grundsatzerlass Politische Bildung an Österreichs Schulen 2015” bildet hier einen durchaus interessanten Ausgangspunkt. Er legt für alle Schultypen in allen Schulstufen die Aufgabe fest, einen aktiven Beitrag zur Verwirklichung der Demokratie zu leisten und sich mit der Fragestellung auseinanderzusetzen, durch welche Mechanismen und Institutionen Formen von Herrschaft und Autorität von der Gesellschaft als rechtmäßig anerkannt werden. Explizit wird dabei festgehalten: “Die freie Bestellung, Kontrolle und Abrufbarkeit der Regierenden durch die Regierten legitimiert Herrschaft und Autorität in einer Demokratie. Politische Bildung ist diesem Demokratieverständnis verpflichtet.” Das hier formulierte Demokratieverständnis, dem der Grundsatzerlass und damit die Politische Bildung in Österreich verpflichtet sind, lässt die kritische Auseinandersetzung mit dem Ausschluss großer Gruppen von “Regierten” vom Wahlrecht sogar als geboten erscheinen.
„Pass Egal Wahl“ gelungenes Instrument für Schulen
Die “Pass Egal Wahl” von SOS Mitmensch bietet Schüler*innen in Österreich ab 16 Jahren auch dann die Gelegenheit im Vorfeld einer Wahl probeweise zur Urne zu schreiten, wenn sie nicht im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft sind. Im Sinne der politischen Handlungsorientierung wird ein Wahlprozess durchlebt und zur kontroversen Auseinandersetzung mit dem demokratiepolitischen Problem des Wahlausschlusses großer Teile der Wohnbevölkerung angeregt, um eigenständig ein werte- und faktenbasiertes Urteil zu fällen. Die Initiative ist ein gelungenes Beispiel für kompetenzorientierte, kritische Bildung an Schulen. Politische Bildung geht über die Vermittlung von Wissen über den Status quo hinaus. Sie sucht Möglichkeiten, die politische Selbstwirksamkeit, das zivilgesellschaftliche Engagement und die politische Partizipation junger Menschen zu fördern. Junge Demokrat*innen passen sich nicht lediglich in ein bereits bestehendes System ein. Sie lernen, an der Gestaltung und Weiterentwicklung gemeinsam mit anderen mitzuwirken und die ungleichen Voraussetzungen zur politischen Beteiligung zu hinterfragen."
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