
„Die Demokratie kippt, wenn wir schweigen“
WELT. Wie wehrhaft ist unsere Demokratie? Oliver Scheiber, Strafrichter und Vorsteher des Bezirksgerichts Meidling kämpft nicht nur im Gerichtssaal für Gerechtigkeit. Er ist Mitinitiator des Antikorruptionsvolksbegehrens und Vorstandsmitglied von SOS Mitmensch. Ein Gespräch über den Zustand der Demokratie, wie man autoritäre Angriffe abwenden kann und was die Beamt:innen in Brüssel richtig machen.
Interview: Milena Österreicher; Fotos: Christopher Mavrič
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MO-Magazin: Sie beschäftigen sich intensiv mit Fragen der Rechtsstaatlichkeit, engagieren sich zivilgesellschaftlich und kennen das System auch aus Ihrer Arbeit als Richter sehr gut. Wie schätzen Sie derzeit den Zustand der österreichischen Demokratie ein?
Oliver Scheiber: Es gibt mehrere Schwachstellen. Eine ist die politische Instabilität, die wir nicht nur in Österreich, sondern in vielen Demokratien beobachten. Das war etwa bei der Regierungsbildung nach der letzten Nationalratswahl deutlich spürbar. Man hat zunehmend das Gefühl, alles könnte jederzeit kippen. Eine Achillesferse sehe ich aktuell in der Medienstruktur.
Inwiefern?
Die Medienvielfalt hat deutlich abgenommen. Es herrscht eine zunehmende Monopolisierung, und viele führende Medien sind eng mit politischen Parteien oder Interessenverbänden verflochten – was sich etwa in den Eigentümer:innenstrukturen widerspiegelt. In so einem System ist man in Krisenmomenten besonders anfällig. Es wäre dringend an der Zeit, Regierungsinserate abzuschaffen und stattdessen in Qualitätsjournalismus, Podcasts und kleinere, hochwertige Medienprojekte zu investieren.
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"Mehrere tragende Säulen unserer Demokratie
sind in den letzten Jahren geschwächt worden."
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Wie lassen sich demokratische Institutionen so absichern, dass sie autoritären Bestrebungen standhalten?
Mehrere tragende Säulen unserer Demokratie sind in den letzten Jahren geschwächt worden. Neben den Medien betrifft das auch staatliche Institutionen. Denken Sie an Fälle wie Ex-Finanzminister Blümel, der dem Parlament Akten vorenthielt, oder den früheren Kanzler Nehammer, der der WKStA Daten verweigerte – das sind massive Tabubrüche in der Zweiten Republik. Wenn solche Vorgänge zur Normalität werden, leidet das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat.
Zudem blieben wichtige Institutionen über längere Zeit unbesetzt – etwa die Bundeswettbewerbsbehörde oder das Bundesverwaltungsgericht. Solche Lücken gefährden die Funktionsfähigkeit des Staates. Zusätzlich leiden Teile der Justiz unter chronischer Unterfinanzierung. Wir brauchen gezielte Reformen und strukturelle Verbesserungen, um wieder Stabilität herzustellen.
Derzeit beobachten wir, wie Donald Trump in den USA das Land umkrempelt: Die Verwaltung wird zusammengespart, Justiz und Wissenschaft angegriffen, Migrant:innen ausgewiesen. Natürlich ist es ein anderes politisches System. Aber: Könnte Vergleichbares auch in Österreich passieren?
Was in den USA geschieht, kann im Prinzip in jedem demokratischen Staat passieren. Es zeigt sich hier ein gefährliches Zusammenspiel von Geld, Macht und Medien. Auch bei uns gibt es keinen ausreichenden Schutz vor dem Einfluss reicher Einzelpersonen auf die Politik. Dennoch glaube ich, dass Europa – und besonders die EU – in dieser Lage eine Chance hat: Wenn es gelingt, die EU als Insel der Demokratie zu erhalten, kann daraus eine besondere Stärke erwachsen. In einigen Bereichen hat die EU-Kommission das bereits erkannt.
Welche Hoffnung hegen Sie auf europäischer Ebene?
Ein großer Vorteil der EU ist die starke Fachbeamt:innenschaft in Brüssel. Dort arbeiten 40.000 bis 50.000 Menschen, die länderübergreifend denken und die sehr stark an das europäische Demokratiemodell glauben. Ihre Gesetzesvorschläge – etwa zu Datenschutz, Informationsfreiheit, Social-Media-Regulierung oder der Absicherung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten – gehen oft in die richtige Richtung. Die EU-Bürokratie – und das meine ich hier ausdrücklich positiv – erkennt die Probleme und entwickelt Lösungsansätze.
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"In den USA zeigt sich ein gefährliches Zusammenspiel
aus Geld, Macht und Medien. Das kann überall passieren."
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Sie haben einmal geschrieben, dass wir uns in Österreich nicht so ganz sicher fühlen dürfen, weil schon einmal mit der Verfassung, die ja heute noch gilt, die Republik gestürzt wurde. Braucht es hier eine Reform?
In bestimmten Bereichen ja. Die Justiz muss besser abgesichert werden, etwa durch unabhängige, weisungsfreie Staatsanwaltschaften. Auch die Auswahlverfahren für Verfassungsrichter:innen und anderer hoher Ämter könnten objektiver gestaltet werden – etwa durch unabhängige Kommissionen. Und für den Fall, dass die Regierung hohe Ämter unbesetzt lässt, könnte man dem Bundespräsidenten ein Nominierungsrecht einräumen. Dennoch: Eine Verfassung allein ist nie Garantie. Auch die US-Verfassung konnte Trump nicht stoppen – letztlich hängt vieles von den handelnden Personen und der politischen Kultur ab. Es ist niemand davon ausgegangen, dass in einer Demokratie jemand wie Trump, der ein verurteilter Krimineller ist und der öffentlich über Minderheiten und Frauen spottet, dass so jemand von einer Traditionspartei in ein Amt gebracht wird. Damit kann man nicht rechnen und darauf kann man sich nicht vorbereiten. Zu einem gewissen Grad ist das auch eine Frage der Gesellschaft, die so etwas zulässt.
In Österreich liegt die FPÖ laut Umfragen weiterhin auf Platz eins. Was braucht es, um populistischen Bewegungen den Wind aus den Segeln zu nehmen?
Es gibt nicht die eine einfache Antwort, sondern viele Faktoren. Demokratische Kräfte brauchen jedenfalls wieder eine klare Erzählung. Der Populismus – meist von rechts, gelegentlich auch von links wie in der Slowakei – bedient sich überall der gleichen Narrative: Das eigene Land sei Opfer der EU oder der Globalisierung. Abstiegsängste werden instrumentalisiert. Die Demokrat:innen hingegen verteidigen sich seit Jahrzehnten und argumentieren entsprechend defensiv.
Vor kurzem habe ich über Dänemark gelesen. Deren Asylpolitik ist hoch problematisch, aber in der Sozialpolitik haben sie eine Erzählung entwickelt, dass die Dinge gut und schnell funktionieren müssen. So haben sie etwa strukturell verankert, dass man innerhalb von zwei oder drei Wochen einen Arzttermin bekommt. Es sind genau solche konkreten Punkte, die das Vertrauen in den Staat stärken: Verlässliche Kinderbetreuung, ausreichend Pflegeplätze und funktionierende Spitäler. Die Politik muss dort, wo Defizite sind, ansetzen und gleichzeitig die Erzählung fördern: Das geht in einem Miteinander, das geht mit demokratischen Mitteln und am besten in einem freien Land. Vielleicht müssen wir nun damit leben, dass die Extremist:innnen ab jetzt nicht mehr fünf Prozent so wie früher haben, sondern 20 oder 25 Prozent. Solange sich die anderen 75 Prozent mit ihren demokratischen Grundwerten einig sind, halte ich das noch für keine große Katastrophe. Wenn Österreich die Demokratie verliert, dann verliert es sie nicht, weil die Mehrheit Extremist:innen sind, sondern weil ein Teil der Bevölkerung schweigt.
Richter Oliver Scheiber wünscht sich eine klare Erzählung der demokratisch gesinnten Parteien: "Seit Jahrzehnten verteidigen sie sich und argumentieren dementsprechend defensiv."
Sie haben angesprochen, dass es demokratisch gesinnten Parteien oft an einer überzeugenden Erzählung fehlt. Diesen Eindruck konnte man stellenweise auch bei der Wien-Wahl bekommen.
Durchaus, aber positiv ist, dass nicht einmal ein Jahr seit der Nationalratswahl vergangen ist und trotzdem die ständige und dominierende Aggressivität der FPÖ in Wien weitgehend verpufft ist. Ich finde das Ergebnis deshalb positiv: Parteien, die sich zur Demokratie bekennen, haben nur wenig verloren. Das zeigt, dass demokratische Kräfte bestehen können. Vor allem im Migrationsthema zeigte sich: Die Mitte-Links-Parteien in Wien betreiben kein Migrant:innen-Bashing – und das seit Jahrzehnten. Das hat sich bewährt. Gleichzeitig sieht man: Dort, wo die Probleme angeblich am größten sind, schneidet die FPÖ oft am schlechtesten ab. Wien begegnet dem Populismus mit einer klaren, ruhigen Haltung – und das trägt. Das zeigen auch andere Städte wie Graz, Innsbruck oder Salzburg.
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"Die Zahlen der Kriminalstatistik sind heute viermal niedriger
als vor 50 Jahren und auch niedriger als vor zehn Jahren."
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Die Parteien mögen sich vielleicht nicht am Bashing beteiligen, aber eine klare Positionierung gegen Hetze und Rassismus findet sich mittlerweile selten.
Das stimmt. Gerade beim Thema Familiennachzug ist die Debatte teils so aufgeheizt, dass es schwer ist, gegenzuhalten. Daran haben auch die Medien einen sehr starken Anteil, weil die Fakten zu wenig oder verzerrt vermittelt werden. Wir haben derzeit sehr niedrige Asylzahlen. Und auch die Kriminalitätsstatistik zeigt: Die Zahlen sind heute viermal niedriger als vor 50 Jahren, und auch wesentlich niedriger als noch vor zehn Jahren.
Wie soll man dieser aufgeheizten Stimmung entgegenwirken?
Man müsste viel stärker mit konkreten Geschichten arbeiten. Wenn man etwa sagt: „Schaut mal, wer eure Großeltern pflegt – das sind oft Menschen mit Migrationsgeschichte“, dann bringt das manche zum Nachdenken. Auch Role Models wie die ehemalige Justizministerin Alma Zadić sind wichtig – Menschen, die selbst geflüchtet sind und heute eine tragende Rolle in der Politik und Gesellschaft spielen. Solche persönlichen Geschichten wirken oft stärker.
Ist es nicht ein Armutszeugnis für uns, wenn man Migration nur mehr wirtschaftlich rechtfertigen kann, anstatt auf Menschenwürde und Menschenrechten zu verweisen?
Natürlich wäre es wünschenswert, wenn Menschenrechte allein ausreichen würden. Ich habe den Eindruck vielen Menschen in Österreich fehlt das Bewusstsein dafür, was es etwa bedeutet, in einem menschenverachtenden Regime zu leben. Das kennt mittlerweile praktisch niemand mehr aus eigener Erfahrung und kaum mehr jemand aus persönlichen Erzählungen. Diese Geschichtsvergessenheit schwächt das demokratische Fundament. Viele wissen schlicht nicht, wie fragil Freiheit und Würde sein können.
Für Scheiber ist es inakzeptabel, dass so viele Menschen nicht wahlberechtigt sind.
Fehlt es also auch an Demokratiebildung?
Ja, da ist wahrscheinlich seit 1945 einiges schiefgelaufen. Unsere nationale Erzählung dreht sich oft um Skisport oder Kulturereignisse wie das Neujahrskonzert – weniger um die demokratischen Errungenschaften. Dabei wäre genau das zentral: Die Demokratie als größter Erfolg der Zweiten Republik. Immerhin besteht diese nun seit 80 Jahren, das ist nicht in vielen Ländern so. Ich finde, jede:r in Österreich sollte Simon Wiesenthal und mindestens zwanzig andere Widerstandkämpfer:innen oder wichtige, engagierte Menschen kennen. Doch de facto kennen viele Menschen die Verbrechensorte – etwa Gusen – nicht. Erst jetzt hat man in Leobersdorf und an anderen Orten ehemalige Lagerstätten entdeckt. Wir haben die Verbrechensorte nicht im kollektiven Bewusstsein, wir kennen die Verbrecher:innen zu einem guten Teil nicht und wir kennen schon gar nicht die Opfer und Widerstandskämpfer:innen. Das ist leider bisher nicht gelungen.
Ein anderer demokratiepolitischer Aspekt in Österreich ist, dass ein großer Teil der hier lebenden Menschen nicht wählen darf. Im Parlament mangelt es auch an Repräsentation: Es sind wenige Menschen mit Migrationsbiografie, aus der Arbeiter:innenschaft oder Menschen mit Behinderung vertreten. Ist das nicht ein Legitimitätsproblem?
Das rigide Staatsbürgerschaftsrecht, das dazu führt, dass so wenige Leute wählen können, ist kurzfristig wahrscheinlich das Hauptproblem. Es hat ein gravierendes Ausmaß erreicht: allein wenn wir Wien betrachten, wo mehr als ein Drittel der Bevölkerung nicht mitbestimmen kann. Das ist völlig inakzeptabel.
Die Bevölkerung besser abzubilden, ist nochmals schwieriger. Einerseits haben wir sehr viele Berufspolitiker:innen, die gar nicht aus anderen Branchen kommen. Grundsätzlich bin ich ja ein Freund von Quoten, beim Geschlechterverhältnis funktioniert das gut. Aber Parteien und Vertretungskörper so aufzustellen, dass sie den Querschnitt der Bevölkerung gut repräsentieren, da braucht es wohl kreative Ideen und internationale Vorbilder, wie man das besser gestalten kann. Es gibt etwa den Vorschlag, einen Teil der Abgeordneten durch Los zu bestimmen – das würde bessere Repräsentation schaffen und ist kein absurder Gedanke.
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"Einen Teil der Abgeordneten per Los zu
bestimmen, würde bessere Repräsentation schaffen."
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Was kann jede:r Einzelne in Österreich nun tun, um die Demokratie zu stärken?
Eine ganze Menge. Schon im eigenen Umfeld kann man Haltung zeigen – am Arbeitsplatz, in der Familie, unter Freund:innen. Konkrete Gespräche können zum Umdenken anregen. Ich verstehe aber auch, dass viele zermürbt sind: Seit Jahrzehnten müssen wir uns gegen Populismus verteidigen, von Haider über Strache bis zu Kurz. Und doch hat sich zuletzt wieder etwas bewegt. Die Proteste und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten haben Wirkung gezeigt. Dass es nun eine Regierung ohne Beteiligung der FPÖ gibt, ist auch ein Verdienst der Zivilgesellschaft. Dieser Erfolg sollte uns Mut machen. In der ÖVP und in der neuen Bundesregierung pflegt man – zumindest derzeit – wieder einen anderen Stil: weniger Aufgeregtheit, keine Message-Control mehr. Das ist ein Fortschritt. Natürlich wird es auch Rückschläge geben. Aber es ist wichtig, dass die demokratische Mitte zusammenarbeitet. Das sollte die Zivilgesellschaft auch anerkennen und konstruktiv begleiten. Denn nur so können wir verhindern, dass auch Österreich in Richtung Autoritarismus kippt, wie es derzeit leider weltweit der Fall ist.
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