
Früchte des Zorns
POPULÄR GESEHEN. In seinem Song "The Promise" erzählt Bruce Springsteen von einem Mann, der einem versprochenen Traum folgt, dass jeder gewinnen kann, wenn er nur will. Eine Kolumne von Martin Schenk, Illustration: Petja Dimitrova
"Die Autobahn ist wieder belebt, heute Abend. Und jeder weiß, wohin sie führt. Ich sitze hier unten im Licht des Lagerfeuers. Und warte auf den Geist von Tom Joad“. Das sind die ersten Strophen in einem Song von Bruce Springsteen. Der Sänger greift die Geschichte von Tom Joad auf. Tom Joad ist der Hauptcharakter in John Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“ über die Große Depression in den USA der Zwischenkriegszeit. Ein gut dotierter öffentlicher Fonds förderte Schriftsteller, Singer-Songwriter, Filmemacher und Fotografen darin, die leisen Stimmen, den gewöhnlichen Alltag und die missachteten Existenzen in den Blick zu bekommen.
Sie erzählten Geschichten, von denen keiner erzählt. Sie machten den Alltag derer sichtbar, die nicht im Licht stehen. Sie verstärkten die Stimmen, die gewöhnlich überhört werden. Die nicht erzählten Geschichten haben – damals wie heute – meist auch nicht gesehene Orte. Die Wohnungen prekärer Arbeit, die Tellerwäscher in der Küche, das Dorf eines gebrechlichen Mannes am Land.
In seinem Song „The Promise“ erzählt Springsteen eine Geschichte von heute im Geiste Tom Joads von damals. Ein Mann schlägt sich durch. Ein Job hier, ein Job da. Meistens geht es über den Highway von einem Ort zum anderen. Irgendwo findet er Arbeit, meist mies bezahlt, leben kann man davon nicht. Am Abend kommt er ins Sinnieren, als er ein paar Achtel vom billigen Wein geleert hat.
„Ich lebte ein Geheimnis“, gesteht er, „wollte es immer für mich behalten. Ich folgte dem Traum, den die Leute am Fernsehschirm hochhalten”. Dem versprochenen Traum, dass jeder gewinnen kann, wenn er nur will. Der Tagelöhner stützt den niedergesunkenen Kopf mit seinen beiden Händen ab. Es ist das große Versprechen, der amerikanische Traum: Wenn du dich nur anstrengst, dann wirst du Millionär.
“Wenn das Versprechen gebrochen wird, lebst du weiter”, heißt es im Song, “aber es stiehlt etwas aus der Tiefe deiner Seele”.
Das Versprechen, dass alle gewinnen, wenn sie nur wollen, ist ein Betrug. Der Mann hebt seinen Kopf: „Ich fühle mich, als würde ich den gebrochenen Geist aller tragen, die verloren haben.”
In diesem Geist tritt auch die junge Lyrikerin und Musikerin Kate Tempest auf. Mit ihrem Debütalbum „Everybody Down“ tourte sie letztes Jahr durch die Welt. „Egal wie furchterregend der Zustand der Welt gerade sein mag, ist da immer die Hoffnung, dass eine frische Idee alles wieder ins Gleichgewicht bringt“, sagt sie. Und Springsteens Song endet mit der Strophe von Tom Joad: „Mama, wo immer ein hungriges, neugeborenes Baby schreit, wo immer ein Kampf gegen das Blut und den Hass, der in der Luft liegt, geführt wird – kannst nach mir suchen, Mama, da bin ich! Wo immer jemand um einen Platz im Leben kämpft, oder einen anständigen Job, wo immer jemand um Freiheit kämpft – Schau in ihre Augen, Mama, du wirst mich sehen“.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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