
Gebt uns eine Perspektive!
DOSSIER. Der Kindergarten ist der erste Schritt ins Bildungssystem. Hier sollen Kinder ein sicheres Fundament bekommen, um auf sozialer, mentaler und intellektueller Ebene wachsen zu können. Doch wie steht es um Österreichs Kindergärten?
Text: Sonja Kittel.
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Beginnen wir mit den harten Fakten. 236.781 Kinder trafen im Jahr 2023/24 auf 41.557 Betreuungspersonen, davon 18.160 fertig ausgebildete Elementarpädagog:innen. Laut „Kindertagesheimstatistik“, die die Statistik Austria im Auftrag des Bundeskanzleramts erhoben hat, sind es 3.400 öffentliche und 1.266 private Kindergärten, in denen dieses Aufeinandertreffen stattfand. Zu große Gruppen, schlechte Finanzierung und zu wenig Personal sind die Ergebnisse, die man in der Praxis am öftesten zu hören bekommt.
Eine, die es wissen muss, ist Maria*. Sie arbeitete viele Jahre als gruppenleitende Pädagogin in einem Kindergarten in Niederösterreich und hatte, bevor sie in Karenz ging, auch die Leitungsfunktion inne. Maria möchte anonym bleiben, weil die Verantwortlichen von Land und Gemeinde es nicht so gerne sehen, wenn Kindergartenpersonal unautorisiert mit den Medien spricht. „Es gibt nur noch wenige Menschen, die für diese Arbeit brennen. Das liegt vor allem an den Rahmenbedingungen“, sagt Maria. Es stehe nicht mehr die Bildung der Kinder im Mittelpunkt, sondern nur noch deren Aufbewahrung. „Wenn man zu zweit oder zu dritt in einer Gruppe mit 25 Kindern ist, kann man nicht bedürfnisorientiert arbeiten. Das ginge vielleicht, wenn vier Kinder auf eine Fachkraft kommen. Jetzt geht es nur um die Förderung der gesamten Gruppe und das einzelne Kind geht unter“, sagt die Pädagogin.
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„ES STEHT NICHT MEHR DIE BILDUNG DER KINDER
IM MITTELPUNKT, SONDERN DEREN AUFBEWAHRUNG“
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Eine gewisse Aufbruchsstimmung spürt derzeit hingegen Eva Kickingereder. Die Elementarpädagogin ist Teil des Vorstands von NEBÖ (Netzwerk Elementare Bildung Österreich), das neben der Bewusstseinsarbeit und dem Austausch mit der Politik auch eine Ansprechstation für alle Menschen im Berufsfeld bieten will. Die Aufbruchsstimmung hänge mit der neuen Regierung und ihrem Programm zusammen. Dort liest man auf Seite 183 von einer „Qualitäts- und Ausbauoffensive“, einer „Verbesserung des Fachkraft-Kind-Schlüssels“, der „Senkung der Gruppengröße“ und einem zusätzlichen Ressourcenpaket ab 2026. Und auch, dass die Schwester des Bildungsministers Wiederkehr selbst Elementarpädagogin ist, lässt hoffen.
Doch Kickingereder, die an der Pädagogischen Hochschule Wien (PH Wien) und an einer BAFEP (Bildungsanstalt für Elementarpädagogik) lehrt, weiß, dass Papier geduldig ist. Man frage sich schon auch, wie das alles funktionieren soll. „Österreichs Elementarbildung hat österreichweit eine massive Personalproblematik. Es fehlt hinten und vorne an Geld und an einer Perspektive“, sagt die NEBÖ-Vorständin. Dass die Vorhaben der Regierung unter Finanzierungvorbehalt stehen, macht die Zweifel nicht kleiner.
Wo sind die Elementarpädagog:innen?
In Österreich ist die Ausbildung von Elementarpädagog:innen einer der wenigen Bereiche in diesem Berufsfeld, für den der Bund und nicht die Länder zuständig sind. Den größten Teil bilden hierzulande die BAFEPs aus. Jugendliche ab 14 können innerhalb von fünf Jahren Ausbildung das Diplom mit Berufsberechtigung und Matura erreichen. Daneben gibt es noch ein zweijähriges Kolleg für Personen mit Matura, Berufsreifeprüfung oder Studienberechtigungsprüfung und drei Hochschullehrgänge für Quereinsteiger:innen. An der Universität Graz wird ein „Masterstudium“ angeboten und der Lehrgang „Elementar Plus“, mit dem sich Assistenzkräfte, die im Berufsfeld arbeiten, zur Elementarpädagog:in ausbilden lassen können. Bisher gehört Österreich, gemeinsam mit Malta, zu den letzten zwei Ländern, die noch kein grundständiges Studium für Elementarpädagogik haben. Doch ab dem Wintersemester 2025/26 wird auch diese Lücke mit zwei Bachelorstudien am FH Campus Wien geschlossen.
Natascha Taslimi: „Die Drop-Out-Quote in den ersten Jahren ist sehr hoch.“
Die Ausbildungsmöglichkeiten sind groß und vielfältig, doch das Problem fängt erst danach an. „Wir wissen, dass nur ein kleiner Anteil der BAFEP-Absolvent:innen nach Abschluss der fünfjährigen Ausbildung unmittelbar in den Beruf einsteigt und auch die Drop-Out-Quote in den ersten Jahren nach Berufseinstieg ist sehr hoch“, sagt Natascha Taslimi. Sie ist die Gesamtkoordinatorin für alle Studiengänge im Bereich Elementarpädagogik an der PH Wien und Vorsitzende von NEBÖ. Taslimi begrüßt die weitere Akademisierung des Berufs, nicht nur um EU-weit anschlussfähig zu bleiben, sondern auch, um damit gesellschaftliche Veränderungen abbilden zu können. „Es geht sich mit dieser Grundausbildung an den BAFEPs einfach nicht mehr aus, auf alle Herausforderungen vorbereitet zu sein, die unsere Gesellschaft bietet,“ sagt sie.
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„DIE ELEMENTARBILDUNG HAT EINE MASSIVE
PERSONALPROBLEMATIK“, SO EVA KICKINGEREDER.
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Taslimi stellt auch in Frage, ob die fünfjährige Ausbildung tatsächlich zur Berufsberechtigung führen und nicht nur die Basis für die Arbeit als Assistenzkraft sein sollte. „Viele BAFEP-Absolvent:innen fühlen sich überfordert mit der Entwicklungsbegleitung der Kinder, der Betreuung der Eltern, der Organisation des Tagesablaufs und der Anforderung, jedem Kind gerecht zu werden. Vor allem unter den derzeit vorherrschenden Bedingungen,“ sagt Taslimi, die viele Jahre selbst an einer BAFEP unterrichtet hat. Ältere Personen, mit Bachelorabschluss, ständen in ihrer persönlichen Reife schon woanders. Dies wird auch durch die Tatsache unterstrichen, dass Personen, die im Rahmen der Erwachsenenbildung das Kolleg abschließen, eine viel niedrigere Drop-Out-Rate haben.
Überforderung und fehlende Wertschätzung
Die Sache mit der Überforderung bestätigt auch eine Studie der Universität Klagenfurt im Auftrag des Bildungsministeriums, die sich unter anderem mit den Ausstiegsgründen von Elementarpädagog:innen aus dem Berufsfeld beschäftigt hat. Viele Schüler:innen würden die Rahmenbedingungen während der Praktikumsphasen als abschreckend empfinden. Die Anstrengung, die mit der Arbeit verbunden sei, wäre im Vorhinein durchwegs unterschätzt worden. Ein Onboarding-System, die Begleitung im ersten Dienstjahr durch eine erfahrene Kollegin oder einen erfahrenen Kollegen, könnte eine sinnvolle Möglichkeit sein, um Neueinsteiger:innen im Beruf zu halten. Auch flexible Arbeitszeitmodelle wären ein großer Anreiz. So gäbe es die Möglichkeit, sich nebenbei weiter auszubilden oder auch Beruf und Familie besser unter einen Hut zu bekommen.
Die Stigmatisierung von Männern als Elementarpädagogen sei schmerzlich, meinen Roland Fabsits, Elementar- u. Hortpädagoge, und Peter Steingruber, Leiter eines heilpädagogischen Kindergartens.
Laut der Studie der Uni Klagenfurt, bei der auch Absolvent:innen befragt wurden, sei vor allem auch die fehlende Wertschätzung der Grund, wieder aus dem Beruf auszusteigen. Die Annahme, dass im Kindergarten keine Professionalität erforderlich wäre, frustrierte viele der Befragten. Auch NEBÖ-Mitbegründerin Eva Kickingereder kritisiert das: „Wir haben immer noch das Image der Basteltanten, die ein bisschen Kaffee trinken, singen und den Kindern beim Spielen zuschauen. Der Fokus auf frühe Bildung und was das für die Bildungsbiografie eines Kindes bedeutet, ist leider immer noch nicht in der Gesellschaft angekommen.“
Männer in der Elementarpädagogik
Schaut man sich das Personalproblem an, zeigt sich auch, dass der Anteil von Männern, die in der Kindergartenbetreuung arbeiten, immer noch sehr klein ist. Auf 40.652 Frauen kamen im Kindergartenjahr 2023/24 gerade einmal 905 Männer. „Es ist nicht gelungen dieses tradierte Rollenbild von ‚Frauen machen die Care-Arbeit‘ zu durchbrechen“, sagt Peter Steingruber, Leiter des heilpädagogischen Kindergartens Steingruber in Graz. Sein Vater hatte in den 70er Jahren schon die Republik Österreich erfolgreich verklagt, weil Männern der Zugang zur Ausbildung als Kindergartenpädagoge verwehrt worden war. Jahre später war sein Sohn der erste männliche Elementarpädagoge im Magistrat Graz. „Männer würden oft unter Generalverdacht stehen, wenn sie in einem Kindergarten arbeiten wollen“, sagt Steingruber. Immer wieder komme die Frage, was für einen anderen Grund ein Mann haben könnte in einem Kindergarten zu arbeiten, als seiner pädophilen Neigung nachzugehen.
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IM JAHR 2023/24 KAMEN AUF 40.652 FRAUEN
NUR 905 MÄNNER IN ÖSTERREICHS KINDERGÄRTEN.
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„Für mich ist diese Stigmatisierung ein großer Schmerz“, sagt auch Roland Fabsits. Er arbeitet als Elementar- und Hortpädagoge in Graz und gründete vor zwei Jahren die Initiative „Männer in der Elementarpädagogik (MidE)“, der auch Peter Steingruber angehört und die in der Steiermark regelmäßig Stammtische für Interessierte abhält. „Wir von MidE wünschen uns, dass es irgendwann nichts Besonderes mehr ist, als Mann im Kindergarten zu arbeiten“, so Fabsits. Um das Bewusstsein zu ändern, wünscht er sich eine Imagekampagne, die nicht nur junge Frauen im Blaumann und mit einem Schraubenschlüssel in der Hand zeigt, sondern auch junge Männer, die im Kindergarten gemeinsam mit einer Gruppe Kinder am Boden sitzen.
Bis dahin plädiert Steingruber dafür, junge Kollegen von Anfang an auf die Stigmatisierung aufmerksam zu machen. „Es gibt Kollegen, die völlig blauäugig in den Beruf kommen und sich irgendwann wundern, warum sie die Kinder nie in irgendeiner Form vollumfänglich versorgen können“, erzählt er. Wenn ihnen dann der Grund bewusst wird, sei es ein herber Rückschlag für sie. Transparenz beim Umgang mit den Kindern, zum Beispiel eine offene WC-Tür beim Wickeln, sei für ihn Priorität. Das würde er generell allen Kolleg:innen raten, denn das Thema sexueller Übergriffe von Frauen auf Kinder sei zwar absolut tabuisiert, aber trotzdem vorhanden, sagt Steingruber, der auch als Psychotherapeut im Kinder- und Jugendbereich tätig ist und in diesem Bereich auch einen Masterlehrgang absolviert hat.
Von den Kindern lernen
Die Situation in Österreichs Kindergärten ist vorsichtig gesagt schwierig. Es fehlt an Wertschätzung, ausreichend Personal, Ressourcen und Flexibilität. Warum es trotzdem erfüllend sein kann im Kindergarten zu arbeiten? Maria schätzt an dem Beruf, dass man den Kindern so viel mitgeben kann. Es gehe darum, einen Stück ihres Weges mitzugestalten und etwas in der Gesellschaft zu bewegen. „Für mich ist das Positivste an dem Job, dass du eine ganz wichtige Bezugsperson für die Kinder und oft auch für die Familie bist. Es passiert einfach so viel in der Entwicklung und man darf das begleiten“, erklärt Eva Kickingereder ihre Berufswahl. „Man lernt auch von den Kindern und oft denke ich mir, so resilient wie sie wäre ich manchmal auch gerne.“
*Name von der Redaktion geändert
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