„Ich bin glücklich. Ich bin frei. Das wünsche ich allen Frauen.“
Seit Fatma Akay-Türker vor drei Jahren aus dem Obersten Rat der Islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten ist, arbeitet sie daran, eine Alternative gegen die patriarchale Ausrichtung der IGGIÖ aufzubauen, wie sie erzählt. Mit ihrem „Verein Muslimische Frauengesellschaft in Österreich“ möchte die Historikerin die Teilhabe von Frauen stärken. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Alexander Pollak, Gunnar Landsgesell, Fotos: Magdalena Blaszczuk
Fatma Akay-Türker, promovierte Historikerin und Ex-Islamlehrerin, legte nach vielen Jahren das
Kopftuch ab. Sie möchte im Einklang mit der islamischen Lehre eine liberale Alternative bieten.
Sie sind vor drei Jahren aus dem Obersten Rat der Islamischen Glaubensgemeinschaft (IGGIÖ) ausgetreten. Aus Protest gegen deren konservative, patriarchale Ausrichtung. Mittlerweile haben Sie ein Buch über Ihre Erfahrungen geschrieben und einen Verein gegründet, der liberale Kräfte in der Community stärken soll. Auf wen zählen Sie, wird das mithilfe einer jungen Generation gelingen?
Die Jungen, die in Österreich geboren sind, haben hier alle Möglichkeiten, auch solche, die in den Herkunftsländern ihrer Eltern nicht existieren. Sie beherrschen die Sprache sehr gut, sie haben Bildung und trotzdem machen sie konservativ weiter. Aber eine Mehrheit der Muslime ist weltoffen, liberal, ihr Problem ist nur: Sie sind nicht organisiert. Ihre Stimme hört man nicht. Und sie trauen sich auch nicht, sich zu Wort zu melden, weil wenn man kein Kopftuch trägt, ist man schon eine schlechte Muslimin. Oder, je nach Religionsverständnis, sogar gar keine Muslimin mehr. Da wird es schon schwer, sich zu äußern. Ich bin eine der wenigen, die sich zu Wort melden kann, weil ich mich mit der Lehre sehr gut auskenne. Öffentliche Kritik gibt es deshalb nicht, aber in den Milli Görüs-Moscheen wird schon Propaganda gegen mich gemacht, weil sie meinen, dass ich auf einem Irrweg bin.
Macht Ihnen das Sorgen?
Nein, im Gegenteil. Und ich sehe auch eine Verpflichtung bei mir, umso mehr, als ich als Religionslehrerin jahrelang ein traditionelles Islam-Verständnis unterrichtet habe. Eine meiner Schülerinnen hatte mich einmal gefragt: „Frau Professor, ist das Kopftuch für Frauen Pflicht?“ „Natürlich“, habe ich geantwortet – wir kannten ja keine andere Sichtweise. Und die Schülerin weiter: „Ist es für Männer Pflicht, sich traditionell zu kleiden?“ „Nein“, sagte ich. Da meinte sie: „Das ist doch ungerecht.“ Damit hatte sie recht, denn wenn es darum geht, was im Islam erlaubt ist, geht es immer nur um Frauen. Und Männer entscheiden das. Über Männer spricht man gar nicht. Deshalb muss man ganz stark trennen: Was steht tatsächlich im Koran, und was wurde dem von Männern an patriarchalen Auslegungen hinzugefügt.
Ihre Kritik an diesen Verhältnissen ist deutlich geworden, haben Sie das Gefühl, sie wird gehört?
Gehört wird sie schon, aber das ändert nichts. Wenn wir etwas ändern wollen, müssen wir eine Alternative anbieten, deshalb habe ich einen Verein gegründet. Denn man kann den Islam sehr wohl anders auslegen: Es gibt Menschenrechte im Islam, es gibt Gleichberechtigung, es gibt Gerechtigkeit und Demokratie im Islam. Das lässt sich alles mit dem Koran belegen. Deshalb müssen wir eine Alternative anbieten.
Stichwort Kopftuch: Mit einer Verbotspolitik
kommt man nicht weiter.
Hat sich die österreichische Politik bei Ihnen gemeldet, zum Beispiel die Frauenministerin?
Die Frauenministerin habe ich zum ersten Mal am 17. April bei der Veranstaltung des Ministeriums zum Fastenbrechen gesehen. Ich habe ihr meine Visitenkarte gegeben und gesagt, dass wir die Muslimische Frauengesellschaft gegründet haben. Aber sie hat sich bei mir nicht mehr gemeldet.
Fühlen Sie sich von der österreichischen Politik gut vertreten?
Nein, überhaupt nicht. Aber ich finde, man muss immer mit Kritik an der eigenen Person beginnen, dann erst folgt die Kritik an der Gesellschaft, in der man lebt. Ich werde öfters gefragt, warum ich immer Muslime kritisiere und nicht Christen oder Juden. Ich habe geantwortet, ich fühle mich für die muslimische Community verantwortlich. Darüber habe ich auch mein Buch geschrieben. Mir ist aber wichtig zu betonen, dass ich meine Kritik an der patriarchal geprägten muslimischen Community nach den Gesichtspunkten der islamischen Lehre verfasst habe. Das ist mir sehr wichtig, weil ich mich nicht von rechter oder rechtsextremer Seite vereinnahmen lassen möchte, während ich Fundamentalismus, Radikalismus und Faschismus in den eigenen Reihen kritisiere. Wir brauchen keine Rassisten, die sich als Islamkritiker aufspielen. Die Meinungen, dass der Islam eine frauenfeindliche und gewaltverherrlichende Religion ist, kennen wir zur Genüge.
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Man kann den Islam sehr wohl
anders auslegen. Es gibt
Menschenrechte im Islam, Gleichberechtigung
und Demokratie.
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Für Sebastian Kurz war ein wichtiges Thema das Kopftuch: Die ÖVP hatte ein Kopftuchverbot für den Kindergarten, für die Pflichtschule und für Lehrerinnen gefordert. Können Sie dem etwas abgewinnen?
Ich hatte ihm damals auf Twitter geantwortet: Bisher habt Ihr gesagt, dass Frauen im Islam unterdrückt werden. Sobald aber kopftuchtragende Frauen sichtbar werden, fangt Ihr mit der Diskriminierung an. Ich habe, damals, 2017, geschrieben: Wenn dieses Kopftuchverbot kommt, dann werde ich Österreich verlassen. Ich bin überzeugt davon, dass man mit einer Verbotspolitik nicht weiterkommt. Verbote bewirken vor allem Gegenwind. Es geht nur mit Bildung, mit Aufklärung. Jeder und jede soll selbst entscheiden, wie er oder sie sich anziehen möchte. Meinungs- und Glaubensfreiheit ist in einem demokratischen Rechtsstaat wie Österreich ein hohes Gut. Das muss verteidigt werden.
Sie hatten in einem Interview einmal gemeint, die Kopftuchdebatte ginge Ihnen auf die Nerven. Zugleich sagen Sie aber auch, das Kopftuch sei eine hochpolitische Angelegenheit. Ist es dann nicht wichtig, darüber Debatten zu führen?
Natürlich! Ich meinte nur, ich möchte nicht ausschließlich über das Kopftuch sprechen. Und ich möchte nicht, dass Frauen nur auf das Kopftuch reduziert werden. Die Männer sollen auf sich selbst schauen. Das habe ich auch in meinem Buch geschrieben: Wenn es um Männer geht, dann funktioniert es wunderbar, den Propheten vom 7. Jahrhundert ins 21. Jahrhundert zu projizieren. Aber wenn es um Frauen geht, dann bleibt Aischa (Ehefrau Mohammeds, Anm.) im 7. Jahrhundert. Wenn wir also vom Islam sprechen, sprechen wir fast immer von männlich geprägter Tradition. Ich habe Männer gefragt: Warum zieht Ihr euch nicht auch wie der Prophet an? Sie sagen: „Es spricht nichts dagegen, dass wir uns in dem Kulturkreis anpassen, wo wir leben.“ Okay! Wenn alle Gebote und Verbote im Islam für beide Geschlechter gleichermaßen gelten, dann sollte nichts dagegensprechen, dass auch die Frauen sich anpassen, noch dazu, wo uns das Kopftuch ganz besonders zur Zielscheibe rassistischer Angriffe macht. Ganz grundsätzlich denke ich, wenn wir ein demokratisches Selbstverständnis und freie Selbstentfaltung ohne Rassismus und Patriarchat erreicht hätten, dann hätten wir solche Debatten nicht nötig, weder in Österreich noch in der muslimischen Community. Deshalb bin ich gegen eine Verbotspolitik. Mit Aufklärung kann man Probleme sehr gut lösen.
Wenn es darum geht, was im Islam erlaubt ist, geht es immer nur um Frauen.
Und Männer entscheiden darüber.
Als Sie Ihre Töchter das erste Mal ohne Kopftuch zur Schule gebracht haben, haben sich diese sehr gefreut. Haben Sie das erwartet?
Das fand ich erstaunlich, das hatte ich nicht erwartet. Immerhin sind das meine Töchter, die ich erzogen habe. Es gab aber auch noch eine andere interessante Reaktion. Bevor ich für die FM4-Sendung „Hinterzimmer“ ein Interview gegeben habe, meinte meine achtjährige Tochter: „Mama, kannst du sagen, du hast das Kopftuch abgelegt, weil deine Töchter das wollten?“ Mir ist damit klar geworden, dass sie sich auch unter Druck gefühlt hatten. Ihre Mutter war meistens die Einzige, die Kopftuch trug, und war deswegen besonders auffällig. Ich beobachte, dass sowohl konservative als auch säkulare Musliminnen in Österreich nicht glücklich sind. Frauen, die ein Kopftuch tragen, macht es unglücklich, dass sie im Alltag und im Arbeitsleben diskriminiert werden. Säkulare Musliminnen wiederum macht unglücklich, dass ihnen vermittelt wird, sie hätten eine große Schuld auf sich geladen, und dass ihnen das Mitspracherecht in religiösen Angelegenheiten abgesprochen wird. Die Lehre daraus ist: Religion kann nur in Freiheit entstehen. Wenn sich jemand unter Druck fühlt, kann daraus auch kein Glaube entstehen. Das ist das Dilemma, ich habe das selbst 28 Jahre lang in Österreich erlebt.
Sie selbst sind auf einem Ticket der Türkischen Föderation in den Obersten Rat gewählt worden, das ist eine Vorfeldorganisation der MHP, eine rechtsextreme türkische Partei, auch bekannt als „Graue Wölfe“. Wie sehen Sie das heute?
Wäre ich politisch nicht so desinteressiert gewesen, hätte ich mich niemals von der Türkischen Föderation in den Obersten Rat der IGGÖ entsenden lassen. Ich bin mit 13 Jahren nach Österreich gekommen und wurde mit 17 Jahren verheiratet. Das heißt aber, dass ich mich in Österreich ganz anders weiterentwickelt und gebildet habe als meine Eltern. Ich habe ab meinem 15. Lebensjahr gearbeitet, später habe ich studiert, habe parallel zu meinem ersten Doktoratsstudium mit meinem zweiten begonnen. Ich habe vier Kinder, habe sie an den Wochenenden öfters zu meinen Eltern gebracht, um durchzulernen. Außerdem war ich ein paar Jahre lang Studienrichtungsvertreterin. Schon deshalb hatte ich nie Zeit, mich auch noch bei einem Moschee-Verein oder einer politischen Vereinigung zu engagieren. Trotzdem sind über die Jahre viele Leute auch mich aufmerksam geworden. Es hat Angebote von verschiedenen Seiten gegeben, auch aus der Türkei oder aus Deutschland. Aber Politik hat mich nicht interessiert. Mein Credo war: zuerst Bildung. Es sollen die sprechen, die Wissen und Kompetenzen haben.
Was bedeutet das konkret?
Ich habe begonnen, mich kritisch und intensiv mit dem Koran auseinanderzusetzen. Selbst auf dem Weg in den Unterricht an Schulen in Mistelbach, in Stockerau oder Bruck an der Leitha habe ich Koranexegesen gehört. Als ich 2018 meine erste Dissertation in der Türkei abgegeben habe, war ich vollkommen erschöpft, total fertig. Am gleichen Tag erhielt ich den Anruf von der Türkischen Föderation, man wolle mich in den Obersten Rat der IGGÖ schicken. Ich hatte zuerst abgelehnt, aber irgendwie erschien es mir doch als Wink des Himmels, dass diese Anfrage genau zu diesem Zeitpunkt kam. Schließlich kommt mit dem Wissen auch Verantwortung. Daher ließ ich mich überreden, als einzige Frau in den Obersten Rat zu gehen. Mit meinem Studium dachte ich, okay, ich kann hier inhaltlich etwas beitragen. Ich erinnere mich, dass ich den Vorsitzenden der IGGÖ, Ümit Vural, vorab auf das Image des Islam angesprochen habe. Ob er interessiert sei, das zu ändern. Als Alibi-Frau stünde ich nicht zur Verfügung. Er stimmte mir zu, aber schon nach wenigen Tagen war davon nichts mehr zu merken. Als ich im Lauf der Zeit zur Überzeugung kam, dass Reformen in der IGGÖ unmöglich sind, bin ich dann gegangen. Seither hatte ich auch keinen Kontakt mehr zur Türkischen Föderation. Schlimm genug, dass jemand seine Stimme erhoben hat. – Aber dass es eine Frau war, können sie noch immer nicht verkraften. Sie hatten mich zuvor nicht gekannt. Ich wurde nicht durch die Türkische Föderation sozialisiert, in meiner Familie war das kein Thema. Ich habe die politischen Hintergründe erst später nach meinem Rücktritt im Rahmen meines weiteren Studiums recherchiert und erkannt, wie naiv ich war. Der Wahlmodus der Mitglieder in den Obersten Rat über Vereine ist jedenfalls ein großes Problem.
Es ist viel Unwissenheit im Spiel, weil der Koran auf Arabisch gelesen wird. Das heißt, viele
verstehen die Sätze gar nicht. Sie wissen nicht, was ihnen vermittelt wird.
Als Sie als Kind nach Österreich gekommen sind, was hätte Ihnen damals geholfen, schon früher ein kritisches Bewusstsein gegenüber den patriarchalen Verhältnissen zu erlangen?
Ich glaube, wenn sich jemand kritisch geäußert hätte, hätte das bei mir nicht gewirkt. Weil ich schon von Kindheit an sehr gläubig war und weil ich alles, was ich aufgrund meiner Erziehung gemacht habe, aus Liebe zu Gott gemacht habe. Da ist natürlich viel Unwissenheit im Spiel, weil der Koran auf Arabisch gelesen wird. Das heißt, viele verstehen die Sätze gar nicht – sie wissen nur, was ihnen darüber vermittelt wird. Mir ging es auch so, selbst als Religionslehrerin. Man muss sich das so vorstellen, dass man ja als gute Muslimin den gesellschaftlichen Anforderungen entsprechen will. Deshalb habe ich auch geglaubt, dass diese ganze konservative Haltung im Sinne Gottes ist. Bis ich den Koran selbst sehr intensiv studiert und mein Doktoratsstudium gemacht habe. Ich hätte sicherlich eine andere Sichtweise des Islam gebraucht, von Leuten, die Muslim*innen und glaubwürdig sind und Gewicht haben. Das wünsche ich der nächsten Generation: Dass sie die Möglichkeit hat, etwas weiter und freier zu denken.
Sie suchen für Ihren Verein Mitstreiterinnen. Ist es leicht, Frauen dafür zu begeistern?
Nein, viele Frauen haben Angst, dass sie diffamiert werden, oder einfach nur, dass sie sich nicht mehr zugehörig fühlen können. Ich glaube, es ist der einzige Weg, eine Alternative anzubieten. Dabei ist aber wichtig, dass man sich nicht angreifbar macht: Ich möchte auch weiterhin auf Basis des Koran mit religiösen Argumenten agieren und eine Erneue rung bewirken. Alles andere würde die Tore dafür öffnen, dass man von rechten Populisten vereinnahmt wird, deshalb musste ich auch schon eine Frau aus dem Verein ausschließen. Das Ganze ist leider ein schwieriger Weg. Es geht hier darum, ein gutes Verhältnis innerhalb der Mehrheitsgesellschaft zu finden, ohne sich zu assimilieren. Aber auch mehr Autonomie für Frauen und ein Selbstbild zu finden, das einem zeitgemäßen Verständnis der islamischen Lehre entspricht. Ich habe meine Werte, in bin Österreicherin und gleichzeitig Muslimin. Ich kann sagen: Ich bin glücklich. Ich bin frei. Das wünsche ich allen Frauen.
Wollen Sie ein Vorbild für Frauen sein?
Ja, und ich beobachte, wie glücklich die Frauen sind, wenn ich ihnen Argumente liefere, die auf dem Koran basieren. Sowohl konservative als auch säkulare Frauen. Denn ihnen fehlt die Zeit, sich damit tiefgründig auseinanderzusetzen. Mit den Argumenten gewinnen sie an Selbstbewusstsein. Ich zeige ihnen, dass man sich nicht einschüchtern lassen muss. Wenn ein Imam sagt, man habe zu schweigen, dann sollte er das inhaltlich begründen. Wir müssen auf Augenhöhe miteinander sprechen, dafür muss sich einiges ändern.
Fatma Akay-Türker, geboren 1975 in der Türkei und als Kind nach Österreich gekommen, ist promovierte Historikerin und Doktorandin der Theologie. Sie hat neun Jahre als islamische Religionslehrerin an verschiedenen Schulen unterrichtet. Im Juni 2020 trat sie aus dem Obersten Rat der IGGIÖ zurück. 2021 erschien ihr Buch „Nur vor Allah werfe ich mich nieder“. 2023 gründete sie den „Verein Muslimische Frauengesellschaft in Österreich“ (MFGÖ) zur Stärkung von Frauenrechten. www.mfgo.at
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