
Univ.-Prof. Rosenberger: „Fehlendes Wahlrecht negativ für Integration"
Politikwissenschaftlerin Univ.-Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger konstatiert „integrations- und interessenspolitischen Schieflagen" infolge des Wahlausschlusses von 18 Prozent der österreichischen Wohnbevölkerung. Diese Schieflagen würden sich negativ auf die Integration auswirken, so Rosenberger. Im Folgenden ihr Statement zur Pass Egal Wahl von SOS Mitmensch:
Desintegrative Effekte von Wahlausschluss
„Politische Partizipation ist ein wichtiger Indikator der gesamtgesellschaftlichen Integration. Die aktive politische Teilnahme kann zusätzlich ihrerseits den Erfolg bei der Integration in anderen Bereichen wie Arbeitsmarkt und Bildung, beim Zugang zu Wohnen und zur Gesundheitsversorgung unterstützen.
Die rechtliche Verweigerung der politischen Teilhabe – österreichweit von ca. 18 Prozent der österreichischen Wohnbevölkerung – wird als reduzierte Demokratie kritisiert. Denn dauerhaft in einem Land bzw. in einer Stadt lebende Menschen, die Steuern zahlen, von politischen Entscheidungen betroffen sind und Infrastruktur benötigen dürfen am politischen Prozess selbst nicht teilnehmen, über sie wird aber in der politischen Debatte meist in negativer Weise, distanzierend und diskriminierend gesprochen.
Ähnlich wie eine niedrige Wahlbeteiligung von prinzipiell Wahlberechtigten birgt auch der rechtliche Wahlausschluss einige Konfliktpotentiale. Mit dem Wahlausschluss gehen auf der persönlichen, individuellen Ebene einige desintegrative, das Gefühl der Zugehörigkeit behindernde Effekte einher. Auch ist bekannt, dass die politische Teilnahme ein Resultat der politischen Sozialisation ist. So kann ein jahrelanger Ausschluss dazu führen, dass politische Teilnahme nicht gelernt wird, dass Menschen in einer Umgebung von Ausgeschlossenen leben und dieses Milieu sich auf eine spätere Beteiligung, d.h. dann, wenn das Wahlrecht vorhanden ist, negativ auswirkt.
Brüchige Identifikation und Vertrauen
Auf einer strukturellen Ebene kann der Wahlausschluss zu Implikationen hinsichtlich der breiten Akzeptanz des demokratischen Systems führen. Die politische Beteiligungsforschung zeigt, dass Teilnahme das Vertrauen in politische Institutionen stärkt und zu einer positiveren Einschätzung der Grundregeln und Leistungen des demokratischen Systems beiträgt.
Partizipationsmöglichkeiten regen das Interesse an Politik an, stärken das Bewusstsein über die eigene politische Kompetenz und begünstigen über diesen Weg sowohl die Identifikation mit Politik, Staat und Gesellschaft als auch die Stabilität von demokratischen Werten und Strukturen.
Umgekehrt macht der Ausschluss von Teilhaberepertoires den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Unterstützung der Einrichtungen des politischen Systems brüchig. Die Identifikation mit Gesellschaft und politischen Institutionen leidet. Dieses Identifikationsdefizit kann durch Migrant*innenorganisationen, die auf der politischen Eben lobbyistisch agieren, nicht abgefedert werden. Im Gegenteil, diese nicht immer nur demokratisch inspirierten Organisationen können zum Entstehen eines explosiven Potenzials beitragen und sich selbst als ein Ventil für Sorgen und Frust anbieten. Um dies zu vermeiden, ist es eine Zukunftsaufgabe der demokratischen politischen Parteien, sich für Wahlrechte einzusetzen und so über die etablierten politischen Prozesse die Wohnbevölkerung zu erreichen.
Der schichtspezifische Ausschluss führt zu interessenspolitischen Schieflagen
Eine Studie in Deutschland zur niedrigen Wahlbeteiligung thematisiert die schichtspezifische Problematik. Nicht-Wähler*innen, so die Studie, sind überwiegend eine soziodemographische Gruppe mit dem Merkmal Ressourcenschwäche. Dies schlägt sich räumlich z.B. in Brennpunktvierteln nieder – in Viertel mit niedriger Wahlbeteiligung leben häufiger Einkommensschwache, Arbeitslose, Bildungsferne und Alleinerziehende.
Ähnliche Effekte zeigt der Ausschluss vom Wahlrecht von Menschen aufgrund der „falschen“ Staatsbürgerschaft. Auch bei den Nicht-Wahlberechtigten sind einzelne soziale, ökonomische Merkmale auffallend: So ist in Österreich etwa 80 % des Reinigungspersonals aufgrund der Staatsbürgerschaft nicht wahlberechtigt.
Der Wahlausschluss ist also eine soziale Schichtfrage. Sie schlägt sich aber nicht nur als individuelles Defizit nieder, sondern trägt dazu bei, dass elektoral getriebene Politik sich bestimmten Problemen widmet, andere aber links liegen lässt. Politische Akteur*innen engagieren sich für sozial benachteiligte räumliche Lagen weniger, ja sie finden kaum Lösungen für deren Probleme und Sorgen. Da die Betroffenen kein Gewicht haben, um politischen Druck auf Entscheidungen zu erzeugen, finden soziale Brennpunkte eher nur die Aufmerksamkeit in anti-Migrationskampagnen. Der verordnete Wahlausschluss eines beträchtlichen Teils der Wohnbevölkerung schlägt sich also nicht selten in der Ausrichtung der Interessenspolitik, und zwar sowohl hinsichtlich von Ressentiments als auch von politischen Maßnahmen, nieder.
Resümee
Die hier nur knapp skizzierten integrations- und interessenspolitischen Schieflagen sind ziemlich genau das Gegenteil von dem, was kürzlich die Integrationsministerin zu Staatsbürgerschaft und Wahlrecht meinte, nämlich, dass eine Ausdehnung des Wahlrechts sich negativ auf die Integration auswirken würde. Für dieses offizielle Statement fehlen die empirischen Belege. Vielmehr gibt es eine Reihe von Hinweisen, wonach sich das fehlende Wahlrecht und die damit einhergehende fehlende bzw. geringere politische Teilhabe sich sowohl individuell als auch strukturell negativ auf gesamtgesellschaftliche Integration, individuelle Zugehörigkeitsempfindungen und demokratische Stabilität auswirken."
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