
Je sicherer, desto freier
POPULÄR GESEHEN. Jedes Kind braucht Sicherheit. Die Abschaffung der Mindestsicherung wirkt sich gerade bei Familien, die es schwerer haben, fatal aus. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Eine Kolumne von Martin Schenk, Illustration: Petja Dimitrova
Das Baby krabbelt über den Teppich, die Mama sitzt daneben und beobachtet ihr Kind. Der Kleine dreht sich um, kommt zurück, fällt in die Arme der Mutter, schmiegt sich an, macht die Augen zu, hebt wieder den Kopf und lässt sich auf den Boden vor seiner Mutter gleiten. Mama Gabi hat sich das alles im Video angesehen. Sie und ihr Baby wurden während des Spielens gefilmt. Jetzt beobachtet sie sich selber dabei. Und kommentiert, was sie sieht. Es geht darum, dass Mama und Papa die Bedürfnisse und Signale ihrer Kinder erkennen und verstehen. Diese „Frühen Hilfen“ richten sich an Familien, die es schwer haben, und an einen Alltag, in dem große Schwierigkeiten auftreten, eine Beziehung mit dem Kind aufzubauen. Die Gründe dafür sind vielfältig, durch Überforderung, existenzielle Sorgen, psychische Erkrankungen oder Gewalterfahrungen. Die „Frühen Hilfen“ nützen zur Hälfte Familien mit Armutsgefährdung, einem Fünftel Alleinerziehender und zu zehn Prozent Müttern mit Symptomen einer Depression. Mittels Filmsequenzen können sich die Frauen selbst im Umgang mit ihrem Kind sehen – und daraus Schlüsse ziehen. Etwa: Welche Bedürfnisse würde das Baby äußern, könnte es schon sprechen? Vielleicht würde es sagen: Ich brauche Dich, damit ich die Welt erkunden kann. Pass auf mich auf. Freu dich mit mir. Ich brauche dich, damit du mich willkommen heißt, wenn ich zu dir komme. Beschütze mich. Ordne meine Gefühle. Tröste mich.
Mit der Abschaffung der Mindestsicherung wird jetzt Gegenwart und Zukunft für diese Kinder noch weiter verschlechtert. Was Einschnitte in das untere soziale Netz bei Notstand, Krankheit oder Sozialhilfe bedeuten, kann bei den Folgen für Kinder sichtbar werden: Massiv sind die Auswirkungen auf Gesundheit, Chancen und Teilhabe. Die Gefahr des sozialen Ausschlusses zeigt sich in den geringeren Möglichkeiten, Freunde einzuladen (10mal weniger als andere Kinder), Feste zu feiern und an kostenpflichtigen Schulaktivitäten teilzunehmen (19mal weniger).
Die „Frühen Hilfen“ haben das Ziel, Eltern so früh wie möglich umfassend bei der Aufgabe zu unterstützen, ihre Kinder gut und verlässlich zu versorgen, und eine sichere wie liebevolle Bindung zu ihnen aufzubauen. Wo Sicherheit vorhanden ist, erforscht das Kind die Welt, erweitert seinen Aktionsradius, erprobt seine Freiheit. Dort, wo eine unsichere Bindung vorliegt, traut sich das Kind nicht von der Mama weg. Je sicherer aber, desto freier agiert es. Sicherheit und Freiheit schließen sich im Sozialen nicht aus. Im Gegenteil. Soziale Sicherheit begründet Freiheit. Vertrauen macht stark. Jeder Gipfelstürmer braucht ein Basislager, jedes Schiff einen sicheren Hafen. Und jedes Kind eine sichere und liebevolle Bindung.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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