
Sprachlos im Klassenzimmer
DOSSIER. Migration prägt Österreichs Schulklassen. Doch das Bildungssystem kommt nicht mit. Fehlende Ressourcen, isolierte Sprachförderung und ein zu spätes Umdenken nehmen vielen Kindern ihre Chancen. Was müsste sich ändern?
Text: Naz Küçüktekin, Fotos: Christopher Mavrič
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In Städten wie Wien hat heute die Mehrheit der Kinder eine andere Erstsprache als Deutsch. Doch die Strukturen entspringen oft noch einer Zeit, in der Vielfalt die Ausnahme war. Schulen kämpfen mit fehlenden Ressourcen, überfüllten Klassen und Konzepten, die der Realität nicht gerecht werden.
Wie groß die Herausforderung ist, zeigt der Dokumentarfilm Favoriten (2024) der Regisseurin Ruth Beckermann: Lehrerin Ilkay Idiskut übernimmt darin an Wiens größter Volksschule im zehnten Bezirk eine Klasse, in der kein einziges Kind Deutsch als Erstsprache spricht. Für Idiskut ist das nicht nur beruflicher Alltag, sondern auch Teil ihrer persönlichen Geschichte. Aufgewachsen in einer türkischsprachigen Familie in Österreich weiß sie, wie entscheidend Sprache für Bildungserfolg und Zugehörigkeit ist. Und sie weiß: Ein Bildungssystem, das Mehrsprachigkeit ignoriert, verspielt seine größten Chancen. „Wenn ein Kind seine Erstsprache nicht gut beherrscht, wird es schwer, eine zweite Sprache wie Deutsch richtig zu lernen“, sagt sie.
Überlastete Schulen, veraltete Strukturen
Besonders in Städten wie Wien prägt Migration den Schulalltag. Laut Statistiken haben mehr als 60 Prozent der Kinder in Wiens Pflichtschulen eine andere Erstsprache als Deutsch. Doch die Schulen sind darauf unzureichend vorbereitet. „Es fehlt überall an Ressourcen“, sagt Idiskut. Große Klassen, fehlende spezialisierte Lehrkräfte, zu wenig individuelle Förderung – die Liste der Probleme ist lang. Besonders die Einführung der Deutschförderklassen, politisch als Unterstützung gedacht, habe sich in der Praxis oft als kontraproduktiv erwiesen. „Man hat Kinder isoliert, die eigentlich im gemeinsamen Lernen voneinander profitieren hätten sollen“, kritisiert sie. Statt durch gemeinsame Erfahrungen Sprachbarrieren zu überwinden, wurden die Kinder aus dem sozialen Miteinander herausgelöst. Zusätzlich fehlte es an Lehrkräften, die für diese anspruchsvolle Aufgabe ausreichend qualifiziert waren. Auch Bildungsexpertin Christiane Spiel von der Universität Wien kritisiert die strukturelle Überforderung. Zwar sei das Thema Diversität mittlerweile Teil der Lehrkräfteausbildung, doch im Alltag stoße deren Umsetzung oft an Grenzen. „Während die Schülerinnen und Schüler immer heterogener werden, bleibt der Lehrkörper noch weitgehend homogen“, sagt sie.
Während in Schulen gerne auf Englisch oder Französisch parliert wird, bleiben die Erstsprachen vieler Kinder wie Türkisch, Arabisch oder Bosnisch/Kroatisch/Serbisch im Schulsystem außen vor.
Hinzu kommt: In den Städten sind die Klassen meist größer als erlaubt. Während am Land Mittelschulklassen mit zwölf Kindern bestehen, sitzen in städtischen Schulen oft mehr als der Richtwert von 25 Kindern es vorgibt – viele davon mit zusätzlichem Sprach- oder Förderbedarf. Je mehr Risikofaktoren in einer Klasse zusammenkommen, desto schwieriger wird es für jedes einzelne Kind, die Lernziele zu erreichen.
Mehrsprachigkeit – eine unterschätzte Stärke
Dabei bringen die Kinder viel mit, das bislang kaum genutzt wird. Ilkay Idiskut betont, wie wertvoll die Mehrsprachigkeit ihrer Schüler:innen wäre – wenn man sie anerkennen würde. Zwar gibt es erstsprachlichen Unterricht, aber oft nicht in den Sprachen, die die Mehrheit der Kinder tatsächlich spricht: türkisch, arabisch, bosnisch/kroatisch/serbisch.
Besonders auffällig wird das im Vergleich zur schnellen Unterstützung ukrainischer Kinder im Jahr 2022. „Als die Kinder aus der Ukraine kamen, wurde sofort muttersprachliche Unterstützung organisiert“, erzählt Idiskut. Ukrainischsprachige Lehrkräfte kamen schnell zum Einsatz. Bei arabisch- oder türkischsprachigen Kindern blieb ein vergleichbarer Einsatz aus. „Das war eine große Enttäuschung für mich“, sagt die Lehrerin. „Es hat gezeigt: Wenn man will, geht es schnell.“
Dass Kinder mit nicht-deutscher Erstsprache im österreichischen Bildungssystem systematisch benachteiligt werden, zeigt auch der Bericht der Initiative für ein diskriminierungsfreies Bildungswesen aus dem Jahr 2022: Die häufigsten Diskriminierungsgründe an Schulen sind rassistische Zuschreibungen – etwa, weil Kinder nicht perfekt Deutsch sprechen oder als „nicht-österreichisch“ wahrgenommen werden. Die Folgen reichen von abwertenden Kommentaren bis hin zu systematischer Benotungsbenachteiligung oder Herabstufung.
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„ALS DIE KINDER AUS DER UKRAINE KAMEN,
WURDE SOFORT UNTERSTÜTZUNG ORGANISIERT.“
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Für Ilkay Idiskut ist klar: Die Sprachen der Kinder sollten im Unterricht sichtbar sein – durch kleine Übersetzungen, mehrsprachige Begrüßungen, bewusste Sprachvergleiche. Das stärke nicht nur die Sprachentwicklung, sondern auch ihr Selbstwertgefühl. Auch Christiane Spiel betont, wie wichtig es ist, die Erstsprache gezielt zu fördern. Sprachwissenschaftliche Erkenntnisse zeigen klar: Kinder, die in ihrer Erstsprache stark sind, lernen auch eine Zweitsprache wie Deutsch nachhaltiger und mit mehr Leichtigkeit.
Defizite schon vor Schuleintritt
Ein zentrales Problem erkennt Ilkay Idiskut bereits vor dem Schuleintritt. Viele Kinder kommen in die Volksschule, ohne grundlegende Fertigkeiten entwickelt zu haben: Sie können keine Schere halten, haben nie gelernt, sich in einer Gruppe zurechtzufinden und soziale Regeln zu befolgen.
„Es geht nicht nur um Sprache“, sagt sie, „Kinder sollten auch grundlegende soziale und motorische Fähigkeiten mitbringen.“ Deshalb plädiert Idiskut klar für verpflichtende Kindergartenjahre ab dem dritten Lebensjahr – für alle Kinder, unabhängig von Herkunft und sozialem Umfeld.
Auch Bildungspsychologin Christiane Spiel sieht den Elementarbereich als entscheidend. Sie fordert, die Übergänge zwischen Kindergarten und Volksschule stärker zu gestalten – etwa durch gemeinsame Aktivitäten, abgestimmte Lehrpläne sowie frühzeitige Sprachfördermaßnahmen. „Der Bruch zwischen Kindergarten und Schule ist oft zu groß“, sagt sie. „Das verstärkt Unsicherheit und Überforderung – nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei den Lehrkräften.“
Auswege aus der Ungleichheit
Wenn Kinder in die Schule kommen, dürfen sie nicht länger Leidtragende institutioneller Defizite sein. Christiane Spiel setzt große Hoffnungen auf den von der aktuellen Bundesregierung geplanten „Chancenindex“. Dieses Instrument soll Schulen mit höherem Anteil an sozial benachteiligten und mehrsprachigen Kindern zusätzliche Mittel verschaffen – etwa für mehr Personal, kleinere Gruppen sowie gezielte Unterstützung durch Psycholog:innen und Sozialarbeiter:innen.
Die Sprachenvielfalt der Schüler:innen sollte im Unterricht sichtbar sein, sagt Volksschullehrerin Ilkay Idiskut. Kleine Übersetzungen, mehrsprachige Begrüßungen und bewusste Sprachvergleiche stärken die Sprachentwicklung sowie das Selbstwertgefühl.
Ein weiterer wichtiger Schritt wäre der bundesweite Ausbau von Ganztagsschulen. Gerade für Kinder, die zu Hause kaum Unterstützung beim Lernen erhalten, bietet der Ganztag bessere Chancen, sowohl sprachlich als auch fachlich aufzuholen. Denn: Bildung wird in Österreich weiterhin stark durch Herkunft bestimmt. Kinder, deren Eltern höhere Bildungsabschlüsse erreicht haben, erreichen selbst häufiger einen höheren Abschluss.
Doch sowohl Idiskut als auch Spiel betonen: All diese Maßnahmen kosten Geld – und erfordern politischen Willen. Denn Bildung ist eine langfristige Investition. Ihre Erträge zeigen sich nicht innerhalb einer Legislaturperiode, sondern über Generationen hinweg.
Eine Schule für alle Kinder
Ein Punkt liegt Ilkay Idiskut besonders am Herzen: die frühe Aufteilung der Kinder nach der vierten Klasse. „Mit zehn Jahren eine Entscheidung treffen zu müssen – das ist viel zu früh“, sagt sie. Die Einführung einer gemeinsamen Schule, in der Kinder länger gemeinsam lernen, könnte helfen, soziale Hürden abzubauen. Gerade Kinder, die am Anfang mehr Unterstützung brauchen, könnten davon profitieren – ohne früh kategorisiert oder stigmatisiert zu werden. Es gehe nicht um Gleichmacherei, sondern darum, Bildungschancen offenzuhalten. Darum, Talenten Raum und Zeit zur Entfaltung zu geben. „Man muss die Kinder wirklich sehen“, sagt Idiskut. „Nicht nur ihre Defizite.“
Naz Küçüktekin war bei der Wiener Bezirkszeitung, dem biber Magazin, bei Profil und zuletzt beim Kurier tätig, wo sie sich im Ressort „Mehr Platz“ vor allem mit migrantischen Lebensrealitäten beschäftigte. Das tut sie nun weiterhin als freie Journalistin.
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