
Wem gehört der Gemeindebau?
Die FPÖ fordert, an Menschen muslimischen Glaubens keine Gemeindewohnungen zu vermieten. Auch die ÖVP möchte den Zugang zum Gemeindebau verschärfen. Was aber würde das für die Wohnsituation in Wien bedeuten? Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Zoran Sergievski
Bei den ersten freien und gleichen Wien-Wahlen 1919 errang die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) die Mehrheit. Sie übernahm die Stadt von der katholisch-konservativen Christlichsozialen Partei (CSP) und eröffnete noch im selben Jahr eine nie dagewesene Reformära. Die kommunalen Wohnblöcke jener Zeit prägen noch heute das Stadtbild jenseits von Habsburg-Kitsch und Gründerzeit. Darum veranstaltete die Stadt Wien 2019 ein großangelegtes Festjahr. Vom symbolträchtigen Karl-Marx-Hof bis zum früheren sozialen Brennpunkt Rennbahnweg gab es Konzerte, Open-Air-Kinos, Spezialführungen und Partys. Das Wien Museum zeigt noch bis zum 19. Jänner die Schau „Das Rote Wien 1919-1934“ – mit Außenstellen in verschiedenen Gemeindebauten.
Forderung nach beschränktem Zugang
Es gibt aber auch Stimmen, die sich nicht in die Feierlaune fügen. Schon Ende 2018 forderte die FPÖ den Ausschluss von Menschen mit muslimischem Glauben aus dem Gemeindebau. Mittlerweile fordert die Partei, dass man überhaupt nur noch mit österreichischem Pass Anspruch auf eine Gemeindewohnung erhält. Sie begründet das mit kulturellen Unterschieden und einigen Vorfällen. Im August hatten in Währing angeblich Flüchtlingskinder österreichische Kinder bedroht. Und zuvor im März wurde ein mutmaßlicher IS-Anhänger in Simmering festgenommen.
Auch die ÖVP möchte den Zugang zum Gemeindebau beschränken. Sie startete im Frühjahr eine Kampagne, in der sie den Missbrauch durch MieterInnen kritisierte. Dieser bestand darin, dass mehrere Gemeindewohnungen laut Gernot Blümel auf Internet-Plattformen aufgetaucht sind, wo sie für Touristen buchbar waren. Für den ÖVP-Landesparteichef ist das Grund genug, Verschärfungen zu fordern. Blümel bezeichnete Gemeindewohnungen als „steuerfinanzierte Sozialleistung“ und deren Weitervermietung als „Missbrauch von Steuergeld“. Damit nehmen ÖVP und FPÖ auf unterschiedliche Weise die Rolle eines Türstehers ein, der den Zugang zum Gemeindebau neu regeln und teilweise sogar ganz versperren will. Die ÖVP verspricht Abhilfe und stellte ein Modell vor, das den Anspruch auf Gemeindewohnungen neu regeln soll. Der Zugang soll fortan über das neue Vergabekriterium der „sozialen Bedürftigkeit“ erfolgen. Als Beleg diente eine Studie vom Österreichischen Verband der Immobilienwirtschaft, laut der nur 22 Prozent der BewohnerInnen den unteren Einkommensschichten angehören.
Für den Soziologen Christoph Reinprecht ist die Argumentation der ÖVP wenig nachvollziehbar. Er meint: „Was zu tun ist, ist das genaue Gegenteil dessen, was hier gefordert wird; nämlich, dass der Gemeindebau nur mehr für die ganz Armen da ist. Das war in der Vergangenheit nicht so und das sollte auch heute nicht so sein. Der Gemeindebau soll vielmehr offen sein für einkommensschwache Gruppen, und zugleich soziale Mobilität zulassen.“
Wie aber beurteilt Reinprecht die Forderung der ÖVP, alle fünf Jahre per Gehaltscheck das Einkommen der BewohnerInnen und damit deren Anspruch auf ihre Wohnung zu prüfen? Er sieht solche
Kontrollen skeptisch: „Das wäre ein wahnsinnig großer, administrativer Aufwand.“ Und wie war der Zugang zu Gemeindewohnungen früher geregelt? Der Historiker Georg Spitaler erzählt, dass das Rote Wien ein Punktesystem hatte, das auf Bedürftigkeit abzielte. Spitaler hat sich zuletzt intensiv mit der Zeit des Roten Wien beschäftigt. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Verein der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (VGA) hat er die Ausstellung „Das Rote Wien 1919-1934“ mitentwickelt. Das erwähnte Punktesystem sollte demnach helfen, „wenn man etwa unverschuldet aus der Wohnung geflogen war oder kleine Kinder hatte und in einer völlig überbelegten Wohnung saß“, erklärt er. Die Staatsbürgerschaft spielte keine Rolle, wobei es Punkte brachte, „wenn man länger in Wien gelebt hat oder hier geboren wurde.“
Soziologe Reinprecht ergänzt: Zwischen 1945 und 2001 war der Zugang zum Gemeindebau dann an den Pass gebunden. Dadurch siedelten MigrantInnen vor allem in gründerzeitlichen Vierteln – etwa entlang des Gürtels –, während der Gemeindebau großteils von ÖsterreicherInnen bezogen wurde. Für viele Arbeiterfamilien war das ein sozialer Aufstieg, kamen sie doch oft aus Substandardwohnungen.
Staat und Privat
In der aktuellen Debatte geht es aber nicht nur um den Zugang zum Gemeindebau, sondern auch darum, wie Wohnbaumittel für die steigende Nachfrage zur Verfügung gestellt werden sollen. Schließlich wird Wien bis 2030 die 2-Millionen-Grenze knacken.
Die ÖVP fordert etwa eine stärkere Stützung des privaten Wohnbaus mit Steuergeldern. So kritisierte ÖVP-Wohnbausprecher Wolfgang Ulm, dass es in Wien nur geförderte Mietwohnungen, aber keine geförderten Eigentumswohnungen gibt. Das sei, so Ulm, „natürlich ideologisch begründet und durch nichts zu rechtfertigen.“ Georg Spitaler erinnert diese Forderung an früher. Nach 1919 beklagte die CSP (sie gilt als Vorläufer der ÖVP), „dass der private Wohnbaumarkt zusammengebrochen ist. Friedrich August von Hayek – der spätere Säulenheilige dessen, was man heute Neoliberalismus nennt – war damals ein junger Volkswirt in Wien und schrieb Texte gegen den Mieterschutz. Das sei ganz schlecht, weil es den Markt verfälscht.“
Heute attestieren ExpertInnen der öster-reichischen Hauptstadt im Vergleich mit internationalen Großstädten noch eine gute Versorgung mit einem leistbaren Wohnraum. Der „Tagesspiegel“ titelte im März diesen Jahres sogar „Ein Paradies für Mieter“ und schrieb: „Pools auf den Dächern, Sozialbauten schön wie Paläste, dennoch sehr günstige Mieten: Wohnen in Wien ist etwas besonderes. Was kann sich Berlin davon abschauen?” Trotz der durchaus zugespitzten Perspektive unterscheidet Wien von Berlin, London oder Paris, dass hier der größte Immobilienverwalter zu 100 Prozent die Stadt selbst ist.
Freilich sind auch hier seit 2009 die Mieten dramatisch angestiegen: laut dem liberalem Think-Tank „Agenda Austria“ im Privatbereich um 25 Prozent, im Gemeindebau um 20 Prozent. Und Lukas Tockner von der Arbeiterkammer (AK) Wien errechnete, dass die privaten Nettomieten bis 2017 sogar um 43 Prozent stiegen.
Was aber würde sich ändern, wenn man den Forderungen von ÖVP und FPÖ folgt und die Gemeindebauten für MigrantInnen sperrt? Die wahrscheinlichste Antwort ist: Es käme wegen Knappheit zu einer Krise auf dem Wohnungsmarkt.
Momentan baut die Hauptstadt jährlich 5-7.000 geförderte Wohnungen, darunter seit kurzem auch wieder klassische Gemeindewohnungen. Bis 2020 verspricht die SPÖ 14.000 Einheiten. Laut der Studie „Wien wächst – Wien baut“ der AK 2018 sind aber mindestens 9.000 Neubauten notwendig, um dem Zuzug beizukommen. Die AK schlägt daher eine „Nachverdichtung“ vor. Besonders Gründerzeithäuser sollen ausgebaut werden. Private EigentümerInnen könnten Förderungen erhalten, wenn sie ein Drittel ihrer Ausbauten – etwa in Dachgeschossen – als Sozialwohnungen reservieren. Auf diese Zahlen stützt sich auch die ÖVP in ihrer Kampagne.
Medien, Streit und Mediation
Der Gemeindebau ist nicht nur wegen seiner vergleichsweise günstigen Mietpreise populär, sondern auch ein beliebtes Anschauungsbeispiel. Christoph Reinprecht stört insbesondere die mediale Überhöhung von sozialen Konflikten im Gemeindebau. Als Beispiel nennt er den zuvor erwähnten Rennbahnweg in Wien-Donaustadt: „Der hatte einen ganz schlechten Ruf. Das hatte damit zu tun, dass es dort eine proletarische Bewohnerschaft mit einem zeitweise höheren Anteil an Arbeitslosigkeit gab. Und natürlich, wie so oft in Groß-Wohnanlagen, gab es auch Jugendliche, die sich zu Banden zusammenschlossen.“ Das funktionierte wie in einem Kreislauf: Soziale Probleme wurden verstärkt in die Medien getragen und damit wiederum Vorurteile gestärkt. Darauf reagierte auch die Stadt, erzählt Reinprecht: „Interessanterweise hat sich diese Situation durch große Investitionen, durch Jugendarbeit, durch soziale Mediation und kulturelle Aktivitäten ziemlich gewandelt. Daran zeigt sich, dass solche Dinge keineswegs festgeschrieben sind.“
Seit 2010 setzt die Gemeinde auf Mediation. 150 „wohnpartner“ des Wohnservice Wien sind in den Bauten unterwegs, sprechen mit den Leuten und suchen Lösungen. Ein Konzept, das es schon einmal gegeben hat, glaubt Georg Spitaler, und zwar in der Rolle der Kassierer der SDAP. Die Sektionen schickten ihre Kassier von Tür zu Tür, um die Mitgliedsbeiträge einzutreiben: „Meine Vermutung ist, dass das der Ort war, an dem Anliegen, Probleme, Streitigkeiten diskutiert wurden.“ Nachdem Stadt und Partei stark verknüpft waren, konnte man klientelistisch auf Beschwerden eingehen. Der Vorteil von „wohnpartner“ sei hingegen ihre Parteiunabhängigkeit.
Auch der Bosnienkrieg beeinflusste Wiens Wohnpolitik. Damals war die Gesellschaft bereit, in Geflüchtete zu investieren, so Reinprecht. Mittlerweile seien die Leute in der Mehrheitsgesellschaft aufgegangen und gewissermaßen verschwunden, was auch die Öffnung des Gemeindebaus begünstigte. Erst bei Auseinandersetzungen spielt die Herkunft wieder eine Rolle; dann werden ZuwandererInnen aus Bosnien wieder auf den Islam reduziert. Reinprecht glaubt aber, dass es auch ohne die kulturbezogene Polarisierung durch Medien und auch ohne Zuwanderung zu Konflikten mit AltbewohnerInnen kommen würde. Schließlich werden nach und nach großzügige Familienwohnungen frei, in die junge Leute „mit ganz anderen Lebensvorstellungen“ einziehen.
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