
Wer fängt jene auf, die das System vergisst?
DOSSIER. Der Aufstieg durch Bildung bleibt für viele Jugendliche ein unerfüllter Traum, denn: ihre soziale Herkunft entscheidet stärker über den schulischen Erfolg als ihre Leistung. Initiativen wie buntaž versuchen, jenen zu helfen, die sonst außen vor bleiben.
Text: Emilija Ilić.
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Željana Jurić und Anja Szumny gründeten „buntaž“, ein Netzwerk für Chancengleichheit. Buntaž steht für bunt von a bis ž. Das Anliegen des Vereins: Weder Gehaltszettel, Bildungsgrad noch Herkunft der Eltern sollen die Potenzialentfaltung der Kinder bestimmen.
Sagal H. musste als Fünfjährige mit ihrer Familie aus dem Jemen nach Österreich flüchten. Heute ist sie fünfzehn, besucht eine Fachmittelschule in Wien und will in den Sozialbereich. Sagals Bildungsweg war alles andere als einfach. „Ich konnte kein Deutsch, kannte das Alphabet nicht. In der Steiermark waren mein Bruder und ich die einzigen Schwarzen an der Schule. In meiner Klasse hatte ich keine Freund:innen – und wurde gemobbt“, erzählt sie. Die Lehrer:innen schauten weg, Unterstützung gab es kaum. Erst durch einen Schulwechsel nach Wien und eine engagierte Deutschlehrerin konnte sie Vertrauen aufbauen und Anschluss finden.
Ähnlich wie Sagal ergeht es auch vielen anderen Jugendlichen in Österreich. Gerade junge Menschen mit Flucht- und Migrationgeschichte oder aus sozioökonomisch benachteiligen Haushalten erleben hautnah, wie schwer es ist, sich gegen strukturelle Ungleichheit durchzusetzen. Sie starten oft mit schlechteren Ausgangsbedingungen. Denn in kaum einem anderen OECD-Land hängt der Bildungserfolg so stark von der sozialen Herkunft ab wie in Österreich.
Bildung wird hierzulande nicht immer erarbeitet, sondern oft vererbt. Laut Statistik Austria schaffen es rund 61 Prozent der Kinder von Aka-demiker:innen selbst bis zur Hochschule – bei Kindern von Eltern mit Pflichtschulabschluss sind es gerade einmal neun Prozent. Früh getroffene Entscheidungen – etwa nach der vierten Schulstufe – stellen entscheidende Weichen: Neun von zehn AHS-Schüler:innen steigen später in eine Schule mit Matura-Abschluss ein. In der Mittelschule gelingt das nur vier von zehn.
Mithilfe von Role Models, Mentoring und Workshops an Schulen und verschiedenen Bildungseinrichtungen werden die Jugendlichen vom Verein buntaž unterstützt. Denn in Österreich wird Bildung in vielen Fällen immer noch vererbt. Nicht alle haben die gleichen Startbedingungen.
„Es ist absurd, dass Kinder sich so früh entscheiden müssen, ob sie in die Mittelschule oder das Gymnasium gehen – obwohl sie oft gar nicht die Unterstützung bekommen, um diese Entscheidung überhaupt treffen zu können“, kritisiert Sagal. Ihrer Familie war das österreichische Schulsystem nicht bekannt.
Sagal lernte durch Social Media und Fernsehen eigenständig Deutsch, passte sich an, um dazuzugehören. Rückblickend habe sie die Situation stärker, selbstständiger gemacht, trotzdem hätte es so nicht kommen müssen.
Zivilgesellschaft macht Hoffnung
Dass es anders geht, beweist „buntaž“, ein Netzwerk für Chancengleichheit. Der Verein gibt Workshops an Wiener Schulen und vermittelt ehrenamtliche Mentor:innen, die Jugendlichen individuell unter die Arme greifen. „Die eigene soziale Herkunft darf nicht länger über die Chancen entscheiden, die junge Leute im Leben bekommen. Weder der Gehaltszettel, das Bildungsniveau noch der Status der Eltern sollen über die Potentialentfaltung der Kinder entscheiden“, sagt Gründerin Željana Jurić.
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NUR 9 % DER KINDER VON ELTERN MIT PFLICHTSCHUL-
ABSCHLUSS GEHEN AN DIE HOCHSCHULE.
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Doch das geschieht hierzulande großteils immer noch. Jugendliche aus einkommensschwachen Familien schneiden laut PISA 2022 im Schnitt vier bis fünf Schuljahre Lernunterschied schlechter ab als Gleichaltrige aus privilegierten Haushalten. Schüler:innen mit Migrationshintergrund sind ebenfalls auf Unterstützung angewiesen: Im Durchschnitt erzielen sie geringere Bildungsergebnisse.
Diese Ungleichheit setzt sich nach der Schule fort: Die Studierenden-Sozialerhebung zeigt, dass migrantische Studierende ein um 42 Prozent höheres Risiko haben, das Studium abzubrechen, als ihre autochthonen Kolleg:innen. Menschen mit Pflichtschulabschluss verdienen laut Statistik Austria ein Drittel weniger als Akademiker:innen und sind fast dreimal so häufig armutsgefährdet.
Ein möglicher Ausgleich wäre frühkindliche Bildung – doch auch hier hinkt Österreich hinterher. Während Länder wie Norwegen oder Schweden bis zu zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes in die Kleinkindbetreuung investieren, liegt Österreich laut Statistik Austria bei gerade einmal 0,7 Prozent. Das Ergebnis: Eine niedrige Bildungsmobilität und ein früh selektierendes Schulsystem, das Chancen nicht verteilt, sondern sortiert – meist entlang der Herkunft.
Die Unterstützung ihrer Mentorin hat Sagal viel gebracht. „Ich hätte das schon früher gebraucht“, sagt die 15-Jährige.
„Hätte Unterstützung früher gebraucht“
Für Sagal war das Mentoring mit buntaž eine wichtige Erfahrung: „Meine Mentorin hat mich sehr unterstützt. Sie hat mir geholfen, Bewerbungen zu schreiben und bald fange ich sogar eine HLW an. Ich hätte buntaž schon früher dringend gebraucht.“ Mit Mentorin und buntaž-Gründerin Željana Jurić traf sie sich regelmäßig und bekam Unterstützung in Form von Coaching.
Das veränderte Sagals Perspektive grundlegend. „Ich bin davor nicht auf Leute zugegangen, um nach Hilfe zu fragen. Ich konnte das nicht. Ich habe erst gelernt, Hilfe zu suchen und sie anzunehmen. Ich habe verstanden, dass man nicht immer alles selber machen muss“, erzählt sie. Während ihre Freundinnen ihren Hobbies nachgehen, trägt sie viel Verantwortung für ihre Familie.
Der Rückhalt ihrer Familie bleibt eine wichtige Motivation für sie. Sie möchte ihre Eltern stolz machen: „Während unserer Flucht hätten wir sterben können. Es gab Menschen, die genau das erreichen wollten, was ich heute habe. Stattdessen gibt es Kinder und Eltern, die das nicht geschafft haben und auf der Flucht gestorben sind“. Neben ihren Eltern ist auch das ein Antrieb für sie.
Seit dem Mentoring hat Nika mehr Einladungen zu Bewerbungsgesprächen bekommen. Er hofft auf eine baldige Lehrstelle als KFZ-Mechaniker.
Eine zweite Chance
Auch der 16-jährige Nika N. nimmt seit kurzem am Mentoringprogramm teil. Seine Eltern stammen aus Georgien. Seit seinem sechsten Lebensjahr ist er in Wien. „In der Mittelschule habe ich nie mitgearbeitet, ich habe mich eher auf den Sport – Mixed Martial Arts – fokussiert“, erzählt er offen. Sein Traum ist es, professioneller Kampfsportler zu werden, noch steht er am Anfang seiner Karriere. „Trotz Förderungen und Unterstützung durch meine Familie habe ich die Schule nicht ernstgenommen. Jetzt bereue ich es, dass ich nie aufgepasst habe“, erzählt Nika heute.
Trotzdem schloss er die Mittelschule und danach die Polytechnische Schule ab. Seine Eltern motivierten ihn immer wieder. „Irgendwann habe ich mich mehr auf die Schule konzentriert und bessere Noten geschrieben. Ich bin ja nicht dumm, ich hatte einfach nur keine Lust.“ Ursprünglich wollte Nika Bürokaufmann werden, inzwischen strebt er eine handwerkliche Ausbildung als KFZ-Mechaniker an und ist auf der Suche nach einer Lehrstelle. Bei der Lehrstellensuche habe er sich von der Schule im Stich gelassen gefühlt. „Man hat einfach gespürt, dass es den Lehrer:innen egal war“, sagt Nika.
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INITIATIVEN WIE BUNTAZˇ, SINDBAD ODER DAS
START-STIPENDIUM BIETEN UNTERSTÜTZUNG.
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Über seinen Bekanntenkreis kam er zu buntaž. Mit seiner Mentorin arbeitet er nun an seinem Lebenslauf, den Bewerbungsschreiben und trainiert, wie er sich in Gesprächen gut präsentieren kann. Seitdem habe er auch mehr Einladungen zu Bewerbungsgesprächen bekommen. Das Mentoring gibt ihm neues Selbstvertrauen.
Die Zeit der Arbeitssuche nutzt er auch fürs Training und verbessert sich stetig weiter: „Kampfsport bleibt zwar mein Traum, aber es ist unsicher. Ich könnte mich jederzeit verletzen und dann nie wieder kämpfen.“ Von der Schule wünsche er sich mehr Einsatz. „Man müsste herausfinden, warum Schüler keinen Bock haben, statt nur Druck zu machen“, stellt Nika fest.
Niemanden zurücklassen
Sagal und Nika sind Beispiele dafür, was Jugendliche schaffen können – wenn ihnen jemand zuhört, wenn sie gesehen und ernst genommen werden. Dass die richtige Unterstützung wirkt, zeigen Mentoring-Initiativen wie buntaž, Sindbad oder das START-Stipendium in Österreich.
Doch sie sollten ergänzen und nicht das Versagen des Bildungssystems oder des Staates kompensieren. Bildung ist ein Recht – und damit dieses Recht für alle gilt, braucht es nicht nur das Engagement einzelner Initiativen, sondern mutige Reformen. Und eine Gesellschaft, die nicht wegschaut, wenn junge Menschen vom System vergessen werden.
Emilija Ilić ist freie Journalistin, Moderatorin und Social-Media-Managerin. In ihrer selbstständigen Arbeit betreut sie auch die Social-Media-Kanäle von buntaž.
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