Aktiv gegen den Hunger
Aus der Wiener Tafel wurde Die Tafel Österreich. Die älteste und größte Tafel Österreichs kämpft seit 25 Jahren mit Lebensmittelrettung gegen Armut und Ressourcenverschwendung.
Text: Florian Gucher; Fotos: Thomas Topf.
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Nichts weiter als ein geliehener Kleintransporter für die Lieferware sowie viel Ausdauer und Engagement markieren den Beginn: Die Wiener Tafel wurde 1999 von vier Student:innen der Sozialakademie mit lediglich 5000 Schilling (360 Euro) Startkapital gegründet. Heute hat sie ein eigenes Logistikzentrum, ist am Großmarkt Wien mit einem kleinen und einem großen TafelHaus vertreten, besitzt ein herausgeputztes Büro in der Simmeringer Hauptstraße und ist ihrer lokalen Verhaftung längst entwachsen. Seit wenigen Wochen tritt die gemeinnützige Organisation daher unter dem neuen Label „Die Tafel Österreich“ auf.
Die Tafel Österreich holt Lebensmittel von Partnerversorgern und liefert sie an Sozialeinrichtungen wie Frauenhäuser oder Unterkünfte für obdachlose Menschen aus.
„Die Umbenennung ist in erster Linie Resultat einer sich schon länger abzeichnenden Entwicklung“, erklärt Geschäftsführerin Alexandra Gruber. Als Die Tafel Österreich blickt die karitative Organisation nun vermehrt über den Tellerrand. Sie stellt mehr Mitarbeiter:innen außerhalb von Wien ein und möchte sich allmählich ein Netz aufbauen, das ganz Österreich umfasst. Schon bisher gab es Kooperationen mit regionalen Tafeln sowie Aktionen mit der Caritas und dem Roten Kreuz. Seit 2016 geht sie als Foodbank-Mitglied auch Kooperationen mit Tafeln anderer Länder ein.
Anstieg an Armut und Verschwendung
Die Grundintention der Tafel Österreich ist schnell erklärt: Ihre Mission ist es, eine Brücke zwischen der Überfluss- und der Bedarfsgesellschaft zu schaffen. In anderen Worten: Die Tafel will gegen Hunger, steigende Armut und Lebensmittelverschwendung gleichermaßen vorgehen. Dafür holt sie die Lebensmittel von ihren Partnerversorgern ab und bringt sie in ihr Verteilerzentrum. Obwohl die Armut auch in Österreich zunimmt, werden immer mehr wertvolle Nahrungsressourcen weggeworfen. Dabei gibt es genügend Menschen, die diese Lebensmittel gut gebrauchen können – allein in Österreich lebten laut Statistik Austria 2022 mehr als 17 Prozent der Gesamtbevölkerung unter der Armutsgrenze.
Die Tafel erhält Lebensmittelspenden von Nahversorgern und Supermärkten. Sie übernimmt Obst und Gemüse an Wiener Märkten, führt Sammeltouren am Großmarkt in Inzersdorf durch. Eine Win-Win-Situation, ersparen sich die Geschäfte durch diese Kooperation doch die Entsorgungskosten der für sie überschüssigen Produkte.
In weiterer Folge werden, ganz dem internationalen, in den 1990er-Jahren vor allem in Frankreich und Deutschland etablierten Tafelmodell entsprechend, armutsbetroffene Menschen nicht unmittelbar auf der Straße, sondern über soziale Einrichtungen mit den Lebensmitteln beliefert.
Lebensmittel retten, am Großmarkt schlichten, Waren sortieren und ausliefern: Rund 250 ehrenamtliche Mitarbeiter:innen halten Die Tafel Österreich am Laufen.
Viel Engagement
In erster Linie lebt die Tafel von den derzeit gut 250 ehrenamtlichen Mitgliedern, die unterschiedliche Aufgaben und Arbeiten übernehmen. Freiwillige am Großmarkt schlichten und sortieren die Ware, Fahrer:innen führen das Essen aus, Mitarbeiter:innen helfen in Rettung, Verteilung und Logistik mit. Dauer und Häufigkeit variieren. Die Tafel bietet Schulungen zu Themen wie Hygiene, Mindesthaltbarkeit und den Umgang mit Lebensmitteln an. Das Engagement reicht laut Geschäftsführerin von mehrmals wöchentlich bis ein paar Mal im Jahr.
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DAS TAFEL-MODELL WURDE IN DEN 1990ERN
IN DEUTSCHLAND UND FRANKREICH ETABLIERT.
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Einer der Freiwilligen ist Johann G., der sich schon seit Längerem als Fahrer engagiert. „Ich bin stolz darauf, einen sozialen Beitrag für die Gesellschaft leisten zu können“, sagt er. Der ehemalige Busfahrer in Frühpension kann ohne das Fahren nicht leben. Mit seiner Arbeit bei der Wiener Tafel schlägt er so quasi zwei Fliegen mit einer Klappe. Wenn man ihn nach einem besonderen Erlebnis fragt, denkt er an eine Fahrt mit voller Ladung an Lindt-Osterhasen zurück: „Die waren noch ein halbes Jahr haltbar“, erzählt er.
Ebenso wichtig wie die Freiwilligen sind all die Partnerschaften, die der Verein für seine Belieferung von Warenspenden eingeht. Neben dem Verteilen von Essen über Sozialeinrichtungen möchte die Tafel auch gesellschaftliche Teilhabe für alle stärken. „Der kostenlose Bezug von Essen über Institutionen hat den Vorteil für Menschen, dass sie zeitgleich auch andere soziale Hilfeleistungen wahrnehmen können“, erklärt Geschäftsführerin Alexandra Gruber. Sozialeinrichtungen verfügen über Sozialarbeiter:innen, die Betroffene mit ihren spezifischen Kompetenzen und Angeboten, etwa Beratung zu Wohnungs- und Arbeitslosigkeit unterstützen.
Das Angebot werde gut angenommen. „Feldstudien und Interviews zeigen: An Tagen, wo wir liefern, kommen Klient:innen häufiger in eine Tagesberatung und sind offener für Betreuung und Beratung“, berichtet die Geschäftsführerin der Tafel Österreich. So würde sich auch ein viel regelmäßigerer Turnus ergeben. „Uns ist es wichtig, durch kooperative Arbeit auf den sozialen Mehrwert zu setzen“, erklärt Gruber.
Die Nachfrage hat sich durch Pandemie und Teuerung vervielfacht.
Steigende Nachfrage
Über 100 Einrichtungen – darunter Flüchtlingsunterkünfte, Obdachlosenheime, Frauenhäuser und Mutterkindwohnheime – werden derzeit von der Tafel beliefert. Die Zahl der beziehenden Personen ist auf knapp 30.000 gestiegen.
Heute braucht es Essenstafeln mehr denn je: Die Nachfrage hat sich in den letzten Jahren seit Covid-19 und der Teuerungswelle vervielfacht. War in Zeiten der Pandemie wegen Platzbeschränkungen und geschlossenen Einrichtungen noch ein zu erwartender Rückgang auf rund 18.000 beziehenden Menschen zu bemerken explodieren die Ziffern nun geradezu. „Diese Tendenz zeichnet sich insbesondere bei der Ernährungsunsicherheit ab, die laut einer Studie von Statistik Austria innerhalb des letzten Jahres von 6% auf 9% angestiegen ist“, sagt Alexandra Gruber. Bei den Kindern sei diese Zahl noch höher. „Unser Ziel muss es sein, dass sie nicht mit leerem Magen auf der Schulbank sitzen. Menschen sind vor allem bei der Ernährung auf Hilfe angewiesen, hier wollen wir unseren Beitrag leisten“, berichtet Die Tafel Österreich-Geschäftsführerin.
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RUND DREI TONNEN LEBENSMITTEL RETTET
DER VEREIN TÄGLICH VOR ENTSORGUNG.
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Dem Verein geht es neben dem Kampf gegen steigende Armut auch um Lebensmittelrettung im Sinne eines umwelt- und ressourcenschonenden Umgangs mit der Welt. Rund drei Tonnen Lebensmittel rettet der Verein täglich vor der Entsorgung.
Bei den Belieferungen selbst stehen zwar in erster Linie die Lebensmittel des täglichen Bedarfs im Fokus, hin und wieder gibt es aber auch sogenannte Überraschungspakete, um zusätzliche Freude zu bereiten, beispielsweise mit Kosmetikartikeln.
Ernährungsunsicherheit ist gestiegen, sagt Geschäftsführerin Alexandra Gruber.
Veganes Angebot
Bei den Lebensmitteln steht gesunde Ernährung im Fokus, gerade weil es für armutsbetroffene Menschen oft schwer ist, sich hochwertige Produkte leisten zu können, was in einseitiger Ernährung und Mangelerscheinungen münden kann. Die Tafel Österreich setzt auch auf Trends: „Seit Neuestem haben wir vegane Ernährung im Angebot“, berichtet Alexandra Gruber, „wir schreiten aber auch in neue Felder vor, wie der Rettung von Fleischprodukten, gerade weil Fleisch aufgrund des Verbrauchsstatus sehr heikel sein kann.“
Laut Caritas kann sich eine halbe Million Menschen in Österreich nicht mehr angemessen ernähren. Auf der anderen Seite werden Lebensmittel tonnenweise weggeworfen. 157.000 Tonnen noch brauchbare oder gar vollverpackte Lebensmittel landen täglich laut Umwelt- und Klimaministerium im Restmüll. Das entspricht einem Wert von über einer Milliarde Euro. Die internationale Organisation Welthungerhilfe spricht von 931 Millionen Tonnen Essen, das jährlich weltweit weggeworfen wird, während 735 Millionen Menschen hungern müssen. Ohne Die Tafel Österreich wären es womöglich noch mehr.
Florian Gucher ist als Kunstwissenschaftler und freischaffender Redakteur tätig. Er schreibt u. a. für artmagazine.cc, gallerytalk.net, KULTUR-Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft, Kulturbericht Oberösterreich, komplex-Kulturmagazin sowie für die Kärntner Kulturzeitschrift DIE BRÜCKE.
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