
„Ich fühle mich allein gelassen“
VerkäuferInnen in Super- und Drogeriemärkten erfuhren gerade in der Anfangszeit der Corona-Krise so viel Anerkennung wie noch nie. Doch in ihrem Arbeitsalltag spürten sie davon nur wenig, stattdessen wurden Arbeitsrechte nicht eingehalten. Eine Verkäuferin erzählt. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Valentine Auer
PolitikerInnen dankten Verkäufer-Innen für ihren Einsatz. Die Bevölkerung klatschte von Fenstern und Balkonen für jene, die während der Krise unter Hochdruck arbeiteten. Unternehmen versprachen ihren MitarbeiterInnen einen finanziellen Bonus, um Danke zu sagen. Noch nie war die Wertschätzung gegenüber VerkäuferInnen in Supermärkten und Drogeriemärkten so hoch.
Die Realität sieht jedoch anders aus: „Man wird schlecht bezahlt und dafür wird viel verlangt. Ausgebeutet wird man wie eine Weihnachtsgans. Erst jetzt, wo Covid-19 da ist, macht sich auf einmal der Betriebsrat wichtig, vorher hat man nichts von ihm gehört. Wo ist da die Gerechtigkeit? Die Krise ist für Menschen im Einzelhandel nervenraubend. Kunden lassen ihre schlechte Laune bei dir aus und jeder Einzelne ist mit den Nerven am Ende, auch ich. Dass wir uns täglich einer Gefahr aussetzen, ist leider niemanden bewusst.“ Diese Zeilen schrieb uns eine Verkäuferin. Wie für viele andere auch kommt ein Interview für sie nicht in Frage. Dementsprechend gestaltete sich die Suche nach InterviewpartnerInnen schwierig. Viele fürchteten um ihren Job, trotz Anonymität. Ein Grund dafür: Das Unternehmen, in dem die VerkäuferInnen arbeiten, hatte Anfang März einen Verhaltenskodex aufgesetzt, der den MitarbeiterInnen öffentliche Äußerungen verbietet. Interviews zu geben war somit tabu. Wir fanden trotzdem eine Mitarbeiterin, die sich bereit erklärte, mit uns zu sprechen, natürlich anonym. Wir nennen sie Julia R. Das Gespräch fand im April während des Lockdowns statt.
Können Sie zu Beginn erzählen, wie sich Ihr Arbeitsalltag durch die Corona-Krise verändert hat?
Julia R.: Meine Firma hat die meisten Entscheidungen von heute auf morgen getroffen. Von den Maßnahmen zum Schutz der MitarbeiterInnen wusste ich immer erst in der Arbeit. Meiner Meinung nach wurden diese auch nur aufgrund des öffentlichen Drucks umgesetzt. Es wurde nichts offen kommuniziert. Wir wurden zwar zu Beginn gefragt, ob wir Mehrstunden leisten können – unter der Voraussetzung, dass diese auch ausbezahlt werden. Danach wurde uns jedoch Zeitausgleich eingetragen, ohne uns zu fragen, oder wir wurden in Zwangsurlaub geschickt. Man merkt, dass das Unternehmen spart und wir sind diejenigen, die darunter leiden, wenn wir zum Beispiel mehrere Stunden alleine im Geschäft stehen. Wir können uns in dieser Zeit nicht die Hände waschen, kein Wasser trinken. Ich habe das Gefühl, mich fünfteilen zu müssen, während das Unternehmen immer mehr von mir verlangt. Ich fühle mich einsam und alleine gelassen. Aber das gilt nicht nur für mich: Ich kenne KollegInnen, von denen verlangt wurde, dass sie an einem Einkaufssamstag neun Stunden alleine arbeiten. Von einem Kollegen aus einer anderen Filiale weiß ich, dass er trotz Asthma nicht freigestellt wurde. Diese Mentalität des Unternehmens verstehe ich nicht. Teilweise werden Entscheidungen auch sehr willkürlich getroffen und sind von der Filialleitung abhängig. Es gab Filialleitungen, die der Meinung waren, dass eine Plexiglasscheibe nicht notwendig ist. Es wurde dann auch keine installiert.
Hier scheint arbeitsrechtlich einiges im Argen zu liegen. Was sagt der Betriebsrat dazu?
Wenn ich wirklich ein Problem habe, wende ich mich an die Arbeiterkammer und nicht an den Betriebsrat. Es war schon immer klar, dass der nicht auf unserer Seite ist. Auch jetzt heißt es vonseiten des Betriebsrates, dass das Unternehmen viel verloren hat, die Umsätze leiden und deswegen müssten wir MitarbeiterInnen mehr mithelfen.
Mir wurde berichtet, dass MitarbeiterInnen ein Papier unterschreiben mussten, dass sie öffentlich nicht über das Unternehmen sprechen, können Sie das bestätigen?
Ich habe dieses Papier einmal gelesen und da finden sich einerseits ganz klassische Punkte. Zum Beispiel, dass wir den KundInnen keine Konkurrenz empfehlen dürfen oder dass wir das Produktsortiment genau erklären müssen. Es sind aber auch problematische Punkte drinnen: Wir dürfen auf Sozialen Medien nichts über das Unternehmen schreiben. Wir dürfen keine Interviews geben oder anderweitig Informationen öffentlich weitergeben. Diese Einschränkung der Meinungsfreiheit kommt mir sehr seltsam vor. Natürlich werde ich keine Geheimnisse ausplaudern, aber ich werde doch noch meine Meinung äußern dürfen, wenn auch mit Zurückhaltung. Dass ich den Namen des Unternehmens nicht erwähnen darf, gleicht einer kleinen Diktatur. Es wundert mich auch, dass wir dieses Papier zu einem Zeitpunkt unterschreiben mussten, als der Virus in Österreich noch nicht so stark verbreitet war. Wir haben uns aber zu diesem Zeitpunkt schon auf eine Krise vorbereitet. Wir mussten noch nie etwas ähnliches unterscheiben, erst kurz vor dieser Ausnahmesituation. Hält man sich nicht an die Vereinbarung, kann man gekündigt werden.
Gleichzeitig scheint es eine neue Wertschätzung gegenüber VerkäuferInnen zu geben: Sie werden zum ersten Mal klar als systemerhaltend bezeichnet. PolitikerInnen bedanken sich bei VerkäuferInnen, abends wird für sie geklatscht. Wie nehmen Sie diese Wertschätzung wahr?
Es ist schön, dass die Menschen merken, dass wir existieren. Allerdings habe ich von diesem Danke oder von diesem Klatschen nichts. Die Leute gehen vorher einkaufen, leeren die Regale und wenn ich nach meinem Dienst einkaufen gehe, gibt es vieles nicht mehr. Die Menschen klatschen mir dann aber mit ihrem gehorteten Toilettenpapier auf dem Balkon, halten im Geschäft aber keinen Abstand, begrüßen mich nicht, schreien mich an. Gleichzeitig filmen sie sich beim Klatschen. Meiner Meinung nach ist das eine Selbst-Vermarktung. Ich will die MitarbeiterInnen, die kleinen Leuten unterstützen, aber dabei filme ich mich. Mir wäre es wichtiger, wenn die Leute wirklich zusammenhalten und nicht nur Unterstützung faken, um Öffentlichkeit zu bekommen. Auch vom Unternehmen gibt es keine Wertschätzung. Aufgrund des öffentlichen Drucks hat uns das Unternehmen zwar einen kleinen Betrag zukommen lassen. Das war dieser groß angekündigte Dankes-Bonus. Tatsächlich erhielt jede Person zwischen 50 und 200 Euro auf ihre Mitarbeiterkarte. Das heißt, das Geld fließt wieder ins Unternehmen. Außerdem denke ich, dass all diese Wertschätzung nach der Krise wieder vergessen wird. Niemand wird uns mehr wahrnehmen. Das ist aber auch unser Alltag, unsere Realität.
Wie würde für Sie echte Wertschätzung aussehen?
Mir hilft es mehr, wenn der Kollektivvertrag neu verhandelt wird oder Arbeitsrechte eingehalten werden. Das Problem ist aber, dass die MitarbeiterInnen schweigen, dass wir nur schlucken. Würden wir uns alle einigen und manche Sachen nicht erlauben, müsste sich das Unternehmen auch ändern. Jetzt ist es aber so, dass auf der einen Seite die Reichen und Mächtigen sind und auf der anderen Seite die kleinen Menschen und wir kleinen Menschen arbeiten für den Reichtum anderer.
Valentine Auer lebt und arbeitet als freie Journalistin in Wien.
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