„Als ich Flüchtling war"
In dieser Reihe erinnern sich bekannte Persönlichkeiten an ihre eigene Flucht. Wir wollen das Thema aus einer anderen Perspektive neu beleuchten. Den Beginn macht die Journalistin und Buchautorin Barbara Coudenhove-Kalergi, die 1945 als Kind mit ihren Eltern aus Böhmen vertrieben wurde. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Barbara Coudenhove-Kalergi
Mit 13 Jahren wurde Barbara Coudenhove-Kalergi aus ihrer Heimatstadt Prag vertrieben. An die
Flucht und das Ankommen in Österreich hat sie noch sehr genaue Erinnerungen.
Mai 1945. Ich bin dreizehn Jahre alt und mit meinen Eltern und meinem siebenjährigen jüngsten Bruder auf dem Weg von Böhmen nach Österreich. Wir sind als Deutschsprachige (keine Deutschen, keine Tschechen, sondern, wie der Philosoph Bernard Brentano sagte, als „Böhmen deutscher Zunge“) aus Prag vertrieben worden. Wir haben eine Zeit im Flüchtlingslager hinter uns und einen wochenlangen Fußmarsch durch Bayern. Wir haben nichts als die Kleider, die wir am Leibe haben, sind erschöpft und ramponiert. Wir sehen aus wie Bettler und Landstreicher und das sind wir auch. Als wir die Grenze nach Österreich überschritten haben – „Go along“ hatte ein amerikanischer Besatzungssoldat gesagt und mit dem Daumen Richtung Freilassing gezeigt – ist meine Mutter am Ende ihrer Kräfte angelangt.
Mein Vater läutet auf gut Glück an der Tür einer schönbrunnergelben Villa. Eine ältere Dame macht auf. Und sagt, mit unverkennbar baltischem Akzent: Kommen Sie herein, Sie sind willkommen! Diesen Satz und diesen Augenblick habe ich nie vergessen. Es war der Eintrittsmoment in ein neues Land, in ein neues Leben und eine Art gutes Omen für alles, was später kam. Wir durften in jenem gastlichen Haus damals duschen und ausruhen und bekamen etwas zu essen, bevor wir wieder weiterzogen.
Flüchtlinge und Migranten – ein Wort, das damals noch nicht gebraucht wurde – gab es in den Jahren nach dem Weltkrieg in Österreich im Überfluss. Eine wahre Völkerwanderung bewegte sich durch Europa. Vertriebene, Geflüchtete, ehemalige Soldaten, ehemalige KZ-Häftlinge. Sie alle hatten nichts, die meisten waren traumatisiert – auch ein Wort, das noch unbekannt war – und lebten von dem, was mildtätige Einheimische ihnen gaben. Auch diese hatten nach sechs Jahren Krieg nicht viel, aber die Hilfsbereitschaft war trotzdem groß.
Wie ging es uns in jenen Jahren? Was war ähnlich, was war anders als heute, als wieder viele Menschen aus anderen Ländern in Österreich Zuflucht gesucht haben und suchen? Meine Familie und ich hatten Glück. Wir waren Deutschsprachige, wir galten nicht als Fremde und hatten nicht mit der Ablehnung zu kämpfen, die heute Zuwanderern und Migrant*innen aus anderen Kulturen entgegenschlägt. Aber Einheimische, wirkliche, „echte“, Österreicher waren wir trotzdem nicht.
Wir lebten in jenen ersten Monaten in einem Jagdhaus im salzburgischen Lungau, das meinem Großvater gehörte. Ich ging in die Hauptschule in der Bezirkshauptstadt Tamsweg, wohnte unter der Woche bei Bekannten und stapfte am Freitagnachmittag 18 Kilometer zu Fuß nachhause und am Sonntag wieder 18 Kilometer zurück nach Tamsweg. Eine andere Welt als die gewohnte in meiner heißgeliebten Heimatstadt Prag. Ich erinnere mich, dass ich damals eine heftige Abneigung gegen alles entwickelte, was mit Bergen, Natur, Alpenheimat zu tun hatte, alles Dinge, die in der Schule eifrig propagiert wurden. Ich fühlte mich als Stadtkind und hasste aus voller Seele Edelweiß und Enzian, Jodler und Lederhosen und sogar die unschuldigen Kühe, die auf den Wiesen weideten. Heute noch sehe ich mich auf einer Weide stehen und laut rufen: blöde Kühe, blöde Kühe. Es war meine Art, das Heimweh zu bekämpfen, das mich heftig erfasst hatte, über das man aber bei uns zuhause nicht jammern und klagen durfte. Unsere Vertreibung, sagte mein Vater, sei eine Folge des „Laufes der Geschichte“. Durch die Geschichte sei man seinerzeit in das Land Böhmen gekommen, durch die Geschichte hatte man es auch wieder verlassen müssen.
Bald die österreichische Staatsbürgerschaft
Anders als die heutigen Zuwanderer hatten wir damals relativ bald die österreichische Staatsbürgerschaft bekommen, mein Vater und meine älteren Brüder, inzwischen heil aus dem Krieg zurückgekommen, durften sofort arbeiten. Ich denke mit Schaudern daran, was aus ihnen und aus uns allen geworden wäre, wenn wir, wie die meisten Migrant*innen heute, jahrelang beschäftigungslos in endlosen Asylverfahren festgesteckt wären. Leicht möglich, dass die halbwüchsigen Burschen in der Kriminalität gelandet wären.
Ich, inzwischen der Hauptschule entwachsen, bekam einen Freiplatz in einem Salzburger Klosterinternat und durfte in der Landeshauptstadt ins Gymnasium gehen. In jener Schulklasse war ich nicht das einzige Migrantenkind. Da waren Risa und Magda, die mit ihren Familien aus Ungarn geflüchtet waren, Hanna aus Slowenien und das „Bombenkind“ Gilli aus Wien, ein Grüppchen, das zwischen den eingesessenen Salzburger Bürgermädchen eine Insel bildete. Wir waren ärmer als die Einheimischen, trugen abgelegte Klamotten aus irgendwelchen Spendenaktionen und hatten Schwierigkeiten, in der stark lokalpatriotisch geprägten Atmosphäre jener Jahre unsere eigene Identität zu finden.
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Wir galten nicht als Fremde und
hatten nicht mit der Ablehnung
zu kämpfen, die heute
Zuwanderern entgegenschlägt.
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Unmittelbar nach dem Ende der Nazizeit herrschte in den Schulen die ungeschriebene Übereinkunft: Wir sind unschuldige Österreicher, mit dem Nationalsozialismus haben wir nichts zu tun, daran sind allein die Deutschen schuld. Folgerichtig wurde über die unmittelbare Vergangenheit nicht geredet, dafür umso mehr über Heimatliebe und Brauchtum. Mit Inbrunst wurde die Salzburger Landeshymne gesungen: „Land unserer Väter, lass jubelnd dich grüßen“. Salzburg, das Land unserer Väter? Es hat gedauert, bis ich gelernt hatte, mich in der neuen Heimat Österreich zuhause zu fühlen, ohne die eigenen Wurzeln zu verleugnen. Ein Lernprozess, an dessen Ende die Erkenntnis stand: Es ist ok, nicht nur eine Heimat zu haben, sondern deren mehrere. Heute nennt man diesen Prozess Integration.
Die Migrant*innen, die in den letzten Jahren aus weiter entfernten Ländern – meist unfreiwillig – hierhergekommen sind, haben es schwerer als wir damals. Vielfach wird von ihnen verlangt, dass sie von heute auf morgen „echte Österreicher*innen“ werden, „deren Herz nicht woanders ist“, wie die Integrationsministerin sagt. Viele nehmen es den Zuwandererkindern übel, wenn sie zuhause oder auf dem Schulhof in ihrer Muttersprache reden.
Heute unterrichte ich als nunmehr „einheimische“ Österreicherin Migrant *innen in der deutschen Sprache. Eingedenk meiner eigenen Erfahrungen versuche ich, ihnen beim schwierigen Prozess der Integration in einem neuen Land zu helfen. Das Ziel: Eine neue Heimat zu finden, ohne die alte vergessen zu müssen.
Barbara Coudenhove-Kalergi, 1932 in Prag geboren, arbeitete als Journalistin bei mehreren Tageszeitungen und berichtete später für den ORF in zahlreichen Reportagen aus Osteuropa. Für ihre Arbeit wurde sie vielfach ausgezeichnet. Publikationen u.a.: Meine Wurzeln sind anderswo. Österreichische Idenitäten (Czernin Verlag, 2002); Die Benes-Dekrete (Ko-Hrsg., Czernin Verlag, 2002); Zuhause ist überall. Erinnerungen (Zsolnay Verlag, 2013).
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