Am Viktor-Adler-Markt
Wie hoch ist die EU in Favoriten vor den Wahlen im Kurs? Ein Lokalaugenschein. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Zoran Sergievski
Der Akkordeonist vorm „New Yorker“ spielt die Frühlings-Hymne Ederlezi. Dabei ist es alles andere als frühlingshaft, er musiziert dem Winter zum Trotz. Es treibt die Leute an, sie gehen zügig über die Shoppingmeile. Mittagspausen, Einkäufe, Gassi-Runden wollen auch Anfang Feber erledigt werden. Während das Thermometer nur knapp über den Gefrierpunkt kommt, wird es hier politisch bald heiß hergehen. Ende Mai stehen nämlich EU-Wahlen an. Und die werden auch an dieser Adresse ausgefochten, dem Viktor-Adler-Platz. Auch hier sind alle EU-BürgerInnen dazu aufgerufen, das Parlament in Straßburg mitzubestimmen. Lange schon ist der Ort im Norden Favoritens nicht nur Viktualienmarkt, sondern vielmehr politischer Kampfplatz. Der Namens- Pate zeigt, dass hier mal das Herz der österreichischen ArbeiterInnenbewegung schlug. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg regierte hier die KPÖ. Ihr altes Parteiheim, das besetzte Ernst-Kirchweger-Haus, steht südlich des Markts in der Wielandgasse. Abgesehen davon und vom Faschismus ist seit 1918 die SPÖ an der Macht. Wie überall steht sie seit fast 30 Jahren auch zwischen Gürtel und Alter Mühle gehörig unter Druck. Kaum ein Jahr, kaum ein Wahlkampf vergehen, in dem sich die Freiheitlichen hier nicht als „soziale Heimatpartei“ oder Retter des Abendlands inszenieren. Kaum ein Jahr, kaum ein Wahlkampf vergehen, in dem sie den Viktor-Adler-Platz nicht medienwirksam füllen. Das hat natürlich Symbolik. Und zahlt sich aus. Nach dem Absturz bei der EU-Wahl 2004 auf 6,4 Prozent errang die FPÖ im Zehnten sagenhafte 22,71 (2009) und 27,1 Prozent (2014), gerade auf Kosten der SPÖ. Und das bei einer Wahl, die kaum auf Begeisterung stößt (siehe Tabelle).
Brot und Brexit
Dabei gaben sich die Blauen lange Zeit alles andere als EU-freundlich. Die FPÖ forderte schon den Öxit – in Anlehnung an den Brexit. Und genau das schien ihr Erfolg zu sein. Die Studentin Doa Krelic kann damit wenig anfangen. „Das ganze Drama zur Zeit um den Austritt aus der EU finde ich sehr übertrieben, überzogen einfach.“ Sie befürwortet den Staatenbund. Es gebe ihr einfach ein Sicherheitsgefühl, mehr noch: „Irgendwie so ein Gemeinschaftsgefühl, da die EU doch als Gemeinschaft anerkannt wird.“ Frau Nemeth widerspricht dem grundsätzlich. Sie meint, „dass die EU Mist ist.“ Sie zögert zunächst. Sie sei doch gar nicht von da, sondern aus der Nähe von Schwechat. Aber den Stand, den betreibt sie schon seit vier Jahren hier in Favoriten. Die Bäckerin steht windgeschützt in einem weißen Pavillon in der Leibnizgasse. In der Ecke des Zelts steht ein Heizstrahler. Frau Krelic kommt von der U1 Keplerplatz, am anderen Ende des Markts. Frau Nemeth ist nicht allein. Wie sie vertrauen 49 Prozent der ÖsterreicherInnen der Europäischen Union „eher nicht“, dagegen 45 Prozent „eher schon“. Das sagt das letzte Eurobarometer, eine halbjährliche Umfrage der EU-Kommission. Damit liegt die Alpenrepublik unter dem EUSchnitt. Am schlechtesten sind die Werte in Großbritannien, Tschechien und Griechenland. Allerdings glaubt erstmals seit 2004 eine Mehrheit der Befragten, dass ihre Stimme in der Union zählt. So will auch Frau Krelic auf jeden Fall im Mai wählen gehen, Frau Nemeth nicht. Bei ihr hat sich der Eindruck verfestigt, dass sich damit nichts ändert. Geduldig und freundlich erklärt Frau Nemeth jedem Kunden, jeder Kundin ihr reichhaltiges Angebot. Sie verliert nie die Fassung noch ihre gute Laune. „Allein der Euro“ sei ein Problem, erklärt die Bäckerin, die ihre Verkäufe genau notiert und blitzschnell kopfrechnet. Sie erinnert sich an die Versprechen der Union: „Es hat geheißen, alles wird besser und einfacher.“ Dabei sei es nur komplizierter. Ältere Leute täten sich mit dem Euro einfach schwer. Die Schilling-Story erzählte die FPÖ jahrelang. Während sich viele darüber freuten, dass man nicht mehr in Drachmen und Peseten umrechnen muss, höhnten andere vom „Teuro“. Abgesehen davon, dass die Teuerung nur auf Platz acht der Sorgen im Eurobarometer liegt, ist die Sache nicht so einfach: „Wir haben mit dem Euro eine ganz andere Inflation als wir sie mit dem Schilling hätten“, sagt Nico Marchetti. Der 28-jährige ist ÖVP-Nationalrat und Parteichef in Favoriten. Er hat sein ganzes Leben im Bezirk verbracht. Ist das für Bürgerliche nicht ein undankbares Pflaster? „Ich finde das extrem spannend“, diese Mischung, die Geschichte, sagt der Jungpolitiker. MO trifft ihn nicht in der örtlichen Parteizentrale, sondern am Hauptbahnhof. Marchetti hält politische Bildung für wichtig, gerade bei Jungen. Nicht nur, aber auch, um über die Union aufzuklären. Den Bahnhof findet er interessant, weil man damit den Leuten die EU am Rand Favoritens zeigen kann. Sie sei nicht weit weg. Marchetti deutet auf ein Taferl bei der Oberlaa- Filiale. Es verweist auf Brüsseler Gelder für den Bau. Klar, Europa ist ungleich EU. Doch dafür, dass sich die ÖBB mit ihrer „Mobilitätsdrehscheibe im Herzen Europas“ rühmen, wirkt das Schild sehr, sehr klein.
Die Macht in der EU
Die ÖVP Favoriten sitzt übrigens in der Erlachgasse. Das Parteiheim fügt sich in die Häuserzeile. Jemand hat mit schwarzem Spray Schlangenlinien über die Fassade gezogen – und über das Gesicht des VP-Wien-Chefs Gernot Blümel, das hier ein Poster ziert. Als wolle man ihm den Mund verbieten. „Oba wenn i scho bleib“, meint der Herr mit Cowboyhut und Brillenketterl in breiter Mundart, „dann muaß i die Goschn hoidn a.“ Auch er hält nichts vom Brexit. Österreich müsse sich fügen und in der EU bleiben, „weil sonst vahunga i“ – sprichwörtlich. Rechte EU-kritische wie -feindliche Parteien feiern überall Achtungserfolge. Und wenn sie nicht an die Regierung kommen, werben sie zumindest erfolgreich, wie Großbritannien zeigt. Die UKIP vermittelte den Briten wie viele andere, dass Brüssel zu viel Macht gegenüber London habe. Auch Frau Nemeth beklagt, dass sich Europa zu sehr in das Leben der Einzelnen einmische. Dabei genoss die Insel von Anfang an viele Sonderrechte. Die drohen im März zu kippen. Aber wer hat tatsächlich die Macht in der EU? Der Herr mit Cowboyhut ist pensionierter Monteur. Er glaubt wie Frau Krelic, die Macht liege bei den großen Mitgliedsstaaten, gerade in Deutschland. Er begründet das mit dessen wirtschaftlicher Stärke: „Aber wo is da Billa? In da deutschen Hand. Wo is da Merkur? In da deutschen Hand“, sagt der Hutträger und meint den REWE-Konzern. Frau Krelic denkt an das politische Standing unseres Nachbarlandes: „In Russland, in Amerika, da bekommt man von Deutschland einfach mehr mit als von Österreich.“
Favoriten, ein Schmelztiegel
31,82 Quadratkilometer misst Favoriten, acht Prozent von Wien. Mit knapp 200.000 EinwohnerInnen ist es der bevölkerungsreichste Bezirk. Hier gab es immer schon viele MigrantInnen, neueste Zahlen sprechen von 34,5 Prozent. Das sind 68.306 Menschen. Von ihnen sind 23.055 (33,75 Prozent) EU-BürgerInnen, 45.251 nicht. Letztere sind nicht wahlberechtigt, nicht mal zur EU-Wahl. EU-BürgerInnen können sich in die Europawählerevidenz eintragen und damit die österreichischen Mitglieder des EU-Parlaments mitbestimmen. Herr Mustafa, der Cowboy, kann nicht. Er kam vor 48 Jahren aus der Türkei nach Österreich. Er verortet seit jeher eine rassistische Grundstimmung im Land. Die Bundesregierung müsse sich entscheiden, ob sie Flüchtlinge „wie der Orbán“ ausschließen oder einbeziehen will. Sie in Kasernen zu stecken sei nichts. Herr Marchetti weist das zurück: „Es gibt ein Regierungsübereinkommen, unabhängig davon, was der eine oder andere in der FPÖ sich ausmalen mag.“ Herr Mustafa beharrt, „entweder, wir haben Menschenrechte und Demokratie oder nicht“. Die kulturelle Vielfalt sieht er (wie Marchetti) als Reichtum – im Gegensatz zu manch anderem Zuwanderer, der ebenfalls politisch rechts wählt. „Frag amal die Leit, wo sind deine Wurzeln?“, schlägt Herr Mustafa vor. Wenn man nach dem Pass gehe, sei sein Kind natürlich auch Österreicher. Darum ist Favoriten ein Paradebeispiel für europäische Schmelztiegel, für Wien, das Land. Viktor Adler kam in Prag als Sohn jüdischer Kaufleute zur Welt – und mischte sich als Reporter und Organisator unter die Wienerberger „Ziegelböhm“. Nemeth ist ein ungarischer Name. Auch Frau Krelics Eltern oder Großeltern kamen vermutlich vom Balkan, wenn man sich auf ihre Sprachmelodie verlässt. Und Marchetti dürfte italienische Ahnen haben. Anders als er lasen sie die Buchstaben in der Mitte wohl als „k“. Dabei ist laut Eurobarometer ausgerechnet die Einwanderung das größte Sorgenthema, und das am Ende von Österreichs EURatspräsidentschaft. „Und, was hat‘s gebracht?“, fragt Herr Mustafa und antwortet selbst: „Na goar nix!“
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