Meine Lehre in Österreich - Anis Mirzai „Ich genieße es jeden Tag in die Arbeit zu gehen“
Anis Mirzai ist 14 Jahre alt, als sie im Jahr 2015 mit ihrer Familie nach Österreich flüchtet. Nach ihrem Pflichtschulabschluss geht sie zwei Jahre ins Gymnasium, entscheidet sich dann aber für eine Lehre. Heute weiß sie, dass das für sie der richtige Schritt ins Berufsleben war.
Redaktion: Sonja Kittel, Foto: Karin Wasner
„Alle Probleme brachen auf einmal auf mich herein“
„Ich komme aus einem Land, in dem alles komplett anders ist als hier: Aussehen, Kultur, Essen, Landschaft, alles. Meine ganze Familie ist aus Afghanistan geflüchtet. Meinen Vater haben wir in der Türkei verloren. Ich bin dann mit meiner Mutter, meiner kleinen Schwester und mit meinen zwei Tanten, die beide jünger sind als ich, 2015 in Österreich angekommen. Das war nicht einfach, weil meine Mutter krank war, meine kleine Tante hat eine Behinderung und mein Vater war nicht da. Ich war 14 Jahre alt und alle Probleme brachen auf einmal auf mich herein.
„Das ist mein Leben“
Wir waren zuerst in Traiskirchen und das war eine Katastrophe. Es waren so viele Menschen aus verschiedensten Ländern. Alle haben auf uns eingeredet, warum wir ohne Männer gekommen sind, wo unser Vater ist. Eine Familie nur mit Frauen? In Afghanistan muss ein Mann bei dir sein, damit du als Frau irgendwas machen kannst. Wir kamen später in ein Flüchtlingsheim in Wien im 9. Bezirk. Dort lebten wir zu fünft in einem Zimmer. WC, Dusche und Küche teilten wir uns mit 20 anderen Familien. Es war extrem laut und unsere Zimmernachbarin kam immer wieder zu mir und sagte, dass ich aufpassen muss, weil Menschen schlecht über uns reden werden, wenn wir ohne Mann unterwegs sind. Irgendwann wurde mir klar, ich muss nicht mehr jedem antworten. Das ist mein Leben und ich muss mich dafür nicht rechtfertigen.
Fußball als Ablenkung
Wir konnten kein Deutsch, nur etwas Englisch als wir in Österreich ankamen. Einen Deutschkurs habe ich erst nach einem Jahr bekommen. Als ich einmal mit meiner Tante im Krankenhaus war, bekam ich von einer Ärztin ein Wörterbuch Deutsch-Persisch geschenkt. Das habe ich dann zuhause auswendig gelernt. Auch sonst habe ich versucht mich immer zu beschäftigen, als wir im Flüchtlingsheim waren. Ich bin in der Früh um sieben raus und erst um acht oder neun zurückgekommen. Ich wollte mit niemandem reden. Ich war in einer Fußballmannschaft von Kicken ohne Grenzen. Jedes Wochenende habe ich dort trainiert.
Meine Lehre
Seit letztem Jahr arbeite ich in einer Apotheke. Im Sommer habe ich dort meine Lehre als Pharmazeutisch-Kaufmännische Assistentin (PKA) begonnen. Ich wollte immer etwas im medizinischen Bereich machen. Vom AMS hieß es, diese Ausbildung wäre zu schwierig für mich, weil Deutsch nicht meine Muttersprache ist. Ich bin dann aber in das Jawa Next Programm vom Integrationshaus gekommen, wo man bei der Lehrstellensuche unterstützt wird, und die meinten, ich schaffe das.
Unterstützung vom Integrationshaus
Wir haben wirklich fleißig gearbeitet, Lebenslauf und Bewerbungen geschrieben und Schritt für Schritt alles ganz korrekt vorbereitet. Ich habe die freie Lehrstelle bei der Apotheke entdeckt, zu Mittag die Bewerbung geschickt und nach zwei Stunden die positive Rückmeldung bekommen. Das ging alles ganz schnell. Jeder in dem Kurs hat sein Ziel erreicht. Jeder hat beim ersten Vorstellungsgespräch ein Praktikum bekommen, eine Lehrstelle oder einen Job. Meine Chefin war auch beeindruckt von Lebenslauf und Bewerbung, fehlerfrei und gut geschrieben.
Der richtige Beruf
Wir leben jetzt in einer Wohnung mit genug Platz und Privatsphäre. Meine ganze Familie hat das unbefristete Bleiberecht bekommen. Ich konzentriere mich auf meine Lehre und will mit einer guten Note abschließen. In der Arbeit sind alle sehr nett. Wir haben einen wirklich guten Umgang miteinander. Ich bin sehr glücklich, dass ich mich für diesen Beruf entschieden habe und da gelandet bin. Das ist wirklich ein tolles Team.
Spannende Beschäftigung mit pflanzlichen Heilmitteln
In der Apotheke kommt dreimal täglich eine größere Lieferung von Medikamenten. Wir übernehmen die Ware, packen sie aus und buchen sie im System ein. Ich habe auch gleich an der Kassa bedient. Manchmal gibt es Kunden, die sehr unfreundlich sind und einen anschreien, aber meine Kollegen unterstützen mich. Das Mischen von Rezepturen, vor allem von Heilpflanzen, interessiert mich sehr. In Afghanistan gibt es auch sehr viele pflanzliche Heilmittel und es ist spannend, das zu vergleichen. Nach meiner Lehre möchte ich gerne weiter in der Apotheke arbeiten. Ich will den B2 Deutschkurs abschließen, meinen Führerschein machen und die österreichische Staatsbürgerschaft beantragen.
„Alle Probleme sind vergessen“
Viele Familien, die ich kenne, sehen die Lehre nur als letzte Chance. Sie wollen, dass ihre Kinder ins Gymnasium gehen und maturieren. Ich habe früher selbst so gedacht, aber die Lehre ist nicht einfach. Es muss nicht jeder Arzt oder Ingenieur werden. Jeder Job ist wichtig und man sollte das tun, was einem Spaß macht. Ich genieße es jeden Tag in die Arbeit zu gehen. Alle Probleme sind dann vergessen. Ich beschäftige mich mit neuen Sachen und lerne viele Menschen kennen. Die Lehre ist eine super Möglichkeit. Man arbeitet, man verdient selbstständig und hat Schule. Das ist toll.“
Sie sind vor Krieg und Gewalt geflüchtet und haben in Österreich ein neues Leben begonnen. In der 9-teiligen Porträtreihe „Meine Lehre in Österreich“ erzählen junge Frauen und Männer, wie sie nach ihrer Flucht ihre Lehrstelle gefunden haben und wie sie ihre Ausbildung erleben. Ihre Geschichten zeigen die Hürden und Probleme, mit denen Geflüchtete nach ihrer Ankunft konfrontiert werden. Es sind aber auch Erfolgsgeschichten von genutzten Chancen, Freundschaft und Menschlichkeit. Wenn Sie Geflüchtete ehrenamtlich unterstützen wollen, finden Sie hier Infos und Kontakte.
SOS Mitmensch kämpft weiter für den Zugang zu Lehre und Arbeit für Asylsuchende und für ein Ende der Abschiebung von Menschen, die sich in Österreich ein neues Leben aufgebaut haben!
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