„Antisemitismus beschränkt sich nicht nur auf extreme Ränder“
Ob während der Pandemie oder in Bezug auf den Nahostkonflikt: Antisemitismus verzeichnet gerade nach aktuellen Ereignissen Höhepunkte. Doch auch abseits davon hat Österreich laut Antisemitismusforscher Andreas Peham ein Problem.
Interview: Naz Küçüktekin, Fotos: Lukas Ilgner.
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Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) widmet sich seit seiner Gründung im Jahr 1963 der Aufklärung von NS-Verbrechen sowie dem Rechtsextremismus nach 1945. Im Gespräch mit dem MO-Magazin erklärt der langjährige DÖW-Mitarbeiter Andreas Peham, warum Antisemitismus nicht nur ein Problem der Rechten ist, und welche Maßnahmen und Schritte es im Kampf dagegen noch braucht.
MO-Magazin: In letzter Zeit gab es vermehrt Diskussionen, was unter Antisemitismus genau zu verstehen ist. Wie sehen Sie das?
Andreas Peham: Für mich sind zwei Aspekte wichtig. Der eine ist der emotionale, leidenschaftliche Aspekt. Das, was als „Judenhass“ auch richtigerweise so bezeichnet wird. Der andere Teil, der Antisemitismus ausmacht, ist, dass er sich im Laufe der Jahrhunderte permanent reproduziert hat. Stichwort Kontinuität. Jeder Antisemitismus schafft neuen Antisemitismus, weil den Opfern immer neue Schuld für ihre Verfolgung gegeben werden muss. Aber das Spezifische am Antisemitismus ist, dass etwas zur Leidenschaft dazukommt. Und das ist die Verschwörungstheorie, die umfassende Welterklärung, in der alle Schuld am Schlechten, an dem, was schiefläuft, den Juden und Jüdinnen gegeben wird.
Gehören Begriffe wie Israelfeindlichkeit oder Antijudaismus auch zu Antisemitismus dazu?
Es sind verwandte Begriffe, die dazu dienen, Vorformen oder Nebenformen zu bezeichnen. Israelfeindlichkeit für sich genommen, ist für mich aber keine Kategorie. Wovon wir sprechen können, ist auf Israel bezogener Antisemitismus. Eine Feindschaft gegen Israel muss sich nicht immer antisemitisch artikulieren. Ich bin aber kein großer Freund von zu vielen Begrifflichkeiten. Das verwässert oft das Phänomen oder erschwert die Analyse.
Wie hat sich Antisemitismus in Österreich in den letzten Jahren und Jahrzehnten entwickelt?
Wir beobachten verschiedene Entwicklungen, die zum Teil auch gegenläufig sind. Auf der einen Seite sind diejenigen, die versuchen, die NS-Verbrechen zu leugnen oder zu relativieren. Und wenn man über Antisemitismus in Österreich redet, redet man über den Holocaust. Die Anerkennung der Shoah als Zivilisationsbruch, als singuläres Verbrechen und die Rolle des Antisemitismus dabei, hat sich in den letzten 20, 30 Jahren bei allen Lücken, die es noch gibt, wie wir immer wieder bei Umfragen sehen, doch gefestigt. Die Gruppe, die das leugnet, ist mittlerweile recht klein.
Was sich aber vergrößert hat, ist das Milieu, das wir als rechtsextrem bezeichnen. Bernd Marin hat schon in den 70er-Jahren konstatiert, dass wir es nach Auschwitz mit einem Antisemitismus ohne bekennende Antisemiten zu tun haben. Im Fall der FPÖ würde ich sogar noch weiter gehen. Da haben wir es sogar mit bekennenden Anti-Antisemiten zu tun. Heinz Christian Strache hat schon 2014 gesagt „Wir sind die neuen Juden“. Wir sprechen hier von einer Holocaust-Inversion. Das demonstrative Bekenntnis der FPÖ gegen Antisemitismus ist für mich aber nicht glaubwürdig, weil es nach wie vor mit einer Verleugnung des eigenen Antisemitismus verbunden ist. Man überträgt Antisemitismus, den man bei sich nicht sehen will, auf die Muslime.
Das Problem wird also externalisiert.
Ja, und es wird für den antimuslimischen Rassismus instrumentalisiert. Aber, was das Ganze auch schwierig macht, sind die tatsächlich signifikant höheren Antisemitismuswerte unter Menschen, die muslimisch sind.
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„Das demonstrative Bekenntnis der FPÖ
gegen Antisemitismus ist nicht glaubwürdig“
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In welchen Gruppen ist Antisemitismus denn tatsächlich ein Problem?
Wenn wir uns die Umfragen der letzten Jahre anschauen, ist Antisemitismus nicht nur ein Problem der extremen Rechten. Es gibt ihn – zwar in deutlich geringeren Ausmaßen, aber doch – in der gesamten Gesellschaft, auch bei den Linken. Hier etwa im Fall des sogenannten Antiimperialismus, wie man etwa nach dem 7. Oktober gesehen hat. Zu glauben, dass sich Antisemitismus nur auf extreme Ränder beschränkt, ist ein Irrtum. Es ist immer ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Und wir haben in Österreich sehr hohe Werte.
Woher kommt das?
Ich versuche immer, verschiedene Erklärungen nebeneinander zu legen. Und ich warne davor, eins gegen das andere auszuspielen. Wir müssen natürlich bei der langen Tradition des Antisemitismus, die in Österreich besonders ausgeprägt war, beginnen. Wir haben viele Regionen des heutigen Österreichs, wo es über Jahrhunderte Juden und Jüdinnen verboten war, überhaupt zu leben.
Die fehlende Trennung von Kirche und Staat ist auch mit ein Grund. Wir sehen im europäischen Vergleich: je stärker der Säkularismus, desto niedriger der Antisemitismus. Das erklärt im Übrigen auch, warum der Antisemitismus nach Osten und vor allem in Südosteuropa höher ist. Die Bedeutung der Religiosität, egal ob muslimisch oder christlich, für den Antisemitismus ist vielfach nachgewiesen. Hier sei auch die Verantwortung der Theologie und des Religionsunterrichts angesprochen. In meiner Wahrnehmung wird dem von der Katholischen sowie Evangelischen Kirche, aber zunehmend auch von der islamischen Glaubensgemeinschaft nachgekommen.
Gibt es weitere entscheidende Faktoren?
Ein wichtiger Faktor ist die politische Geschichte. Ist die Demokratie von unten erkämpft worden oder von oben gewährt? Wir wissen, in Österreich war letzteres der Fall. Da, wo die Nationalstaatswerdung von oben erfolgt ist, haben wir höhere Antisemitismuswerte. Dort haben wir auch einen völkischen Abstammungsnationalismus, dem per se schon Antisemitismus eingeschrieben ist. Hannah Arendt wies darauf hin, dass es die „österreichische“ Prägung des Antisemitismus war, die nach Auschwitz führte – ohne hier eine Zwangsläufigkeit zu behaupten. Das große Problem, womit wir bis heute kämpfen, war auch dieser verleugnende Umgang mit der Geschichte nach 1945. Der hat es jedem neuen und dem, wie wir sagen, sekundären Antisemitismus nach Auschwitz so leicht gemacht. Wenn ich die ganze Schuld auf die Deutschen oder die Nazis abwälze, werde ich blind gegen meine eigenen Ressentiments. In Wahrheit war es umgekehrt: „Ostmärker“ waren für die Durchsetzung des Vernichtungsantisemitismus maßgeblich verantwortlich. Eine Mitschuld von Österreichern und Österreicherinnen am Holocaust wurde seitens der herrschenden Politik aber erst Ende der 1980er Jahre eingeräumt. Diese zweite Schuld (des Verdrängens) ließ den Antisemitismus wieder anwachsen.
Antisemitismus zu bekämpfen, sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sagt Andreas Peham vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes. Dabei sind alle gefragt: jung wie alt, Bildungsinstitutionen, Medien, aber auch die verschiedenen Religionsgemeinschaften.
Also hat sich, grob gesagt, nach 1945 nicht so viel im Umgang und der Prävention von Antisemitismus getan?
So schlimm würde ich es nicht sehen. Natürlich wurde auch viel aufgeholt. Aber bestimmte Sachen kann man nicht aufholen, vor allem die Leugnung und Tabuisierung. Eine offene politische Debatte hatte es in Österreich immer schwer. Wie Robert Schindel es formuliert hat: Waldheim war eine unfreiwillige Aufklärungsmaschine. Nach Waldheim war es nicht mehr möglich, so mit der Vergangenheit umzugehen. Es war gewissermaßen aber schon zu spät, weil es so habituell geworden war. Es braucht Generationen, uns das wieder abzugewöhnen. Wovon wir uns auch verabschieden müssen, ist der naive Glaube, dass möglichst viel Wissen über Nationalsozialismus und die Shoa automatisch zu einer Immunisierung gegenüber aktuellem Antisemitismus führt. Das ist empirisch nicht haltbar. Es ist ein wichtiger Grundstock. Darauf aufbauend müsste dann Antisemitismus-kritische Präventionsarbeit stattfinden.
Wie schaut diese aus?
Wir sagen Antisemitismus-kritische Bildungsarbeit, weil wir uns selbst als Vortragende nicht herausnehmen. Das Nachdenken über die eigenen Verstrickungen in den Antisemitismus, steht am Anfang. Wenn ich das nicht gemacht habe, kann ich gleich einpacken. Jugendliche spüren instinktiv, ob du ehrlich bist. Die Frage der Glaubwürdigkeit ist zentral. Wenn ich zum Beispiel als Linker nur über rechten Antisemitismus rede, mache ich mich unglaubwürdig.
Lehrkräften kommt hier auch eine große Verantwortung zu. Gleichzeitig sind viele, vor allem seit dem 7. Oktober, auch überfordert. Was können sie denn tun?
Das Schlimmste und auch das Häufigste, was sie tun, ist zu ignorieren und nicht zu reagieren. Das ist fatal, auch wenn ich es manchmal verstehe. Es geht aber auch um Eigenverantwortung. Ich darf erwähnen, dass keine meiner Lehrveranstaltungen auf der Pädagogischen Hochschule in Wien, die Antisemitismus im Titel hatten, in den letzten drei Jahren zustande gekommen ist, weil sich zu wenig angemeldet haben.
Wie kann man Menschen, vor allem Jugendliche, außerhalb der Schule abholen?
Da wäre Sozialarbeit gefragt. In der Schule, mit Blick auf Internet und neue soziale Medien, ist die Vermittlung von Medienkompetenz gefragt. Aber neben der Medienkompetenz als schulische Vermittlung und trotz aller Kritik an der Schule als Institution, stelle ich mich auch schützend vor Lehrpersonen, wenn gesamtgesellschaftliche Verantwortung auf sie abgeschoben wird. Schule allein kann das nicht bewältigen. Das kann – wenn überhaupt – nur als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gelingen.
Naz Küçüktekin war bei der Wiener Bezirkszeitung, dem biber Magazin, bei Profil und zuletzt beim Kurier tätig, wo sie sich im Ressort „Mehr Platz“ vor allem mit migrantischen Lebensrealitäten beschäftigte. Das tut sie nun weiterhin als freie Journalistin.
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