
Aufnahmeprüfung durch die Hintertür
Der größte Sündenfall im türkis-grünen Regierungsprogramm ist die Verschärfung der Zugangsbedingungen zur AHS. Wie geht es in der Bildungspolitik weiter? Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Heidi Schrodt
Vermutlich ist es vielen gar nicht aufgefallen, aber Bildung war im vergangenen Wahlkampf kaum oder gar kein Thema – von den NEOS einmal abgesehen. Das hat Tradition in Österreich. Unter der ersten Kanzlerschaft von Sebastian Kurz war Bildung plötzlich in aller Munde. Allerdings führten die „Neuerungen“ zurück in die Schule der 1950er-Jahre. Allen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz wurden wieder Ziffernnoten in der Volksschule verpflichtend eingeführt, auch das Sitzenbleiben in der zweiten Klasse gibt es nun wieder – auch da hat sich bis jetzt niemand, aber auch wirklich niemand gefunden, der das aus Sicht der Forschung befürworten würde. Aber die Forschung soll sich ohnehin nicht überall einmischen, ließ der für die Forschung zuständige Minister diese kürzlich wissen. Dass – ebenfalls unter Missachtung jeglicher Forschungserkenntnisse – segregierende Deutschklassen eingeführt wurden, passt ins Bild der wissenschaftsresistenten Politik von Türkis-Blau. Zugegeben, das Migrationsthema war und ist im Kontext Schule über viele Jahre schändlich vernachlässigt worden, und die Folgen können nicht mehr übersehen werden. Ein Gesamtplan ist weit und breit nicht in Sicht. Die Maßnahmen, die man in den vergangenen zwei Jahren in diesem Bereich gesetzt hat, werden die Probleme weiter verstärken.
So weit, so schlecht. Nun aber haben wir seit zwei Monaten die Grünen an der Regierung. Sie sind Befürworter einer gemeinsamen Schule und in Vorarlberg war zuletzt eine Modellregion dazu zum Greifen nahe. Die Grünen haben sich immer für eine sozial gerechte Schule ausgesprochen und befürworteten das Modell einer gerechten Ressourcenzuteilung an Schulen nach Kriterien des Sozialindex. Sie unterstützten fortschrittliche Unterrichtsmodelle wie Mehrstufenklassen und alternative Formen der Leistungsbeurteilung. Sie waren nicht nur für eine Aufwertung der Elementarpädagogik, sondern mit Nachdruck auch für eine durchgehende Ausbildung auf tertiärer Ebene. All das machte Hoffnung, doch eine grüne Handschrift sucht man im Regierungsprogramm vergeblich. Maximal handelt es sich um grüne Einsprengsel. Zu allererst: Keine der umstrittenen Maßnahmen, die unter Schwarz-Blau gesetzt wurden, werden zurückgenommen. Sie werden nicht einmal zur Diskussion gestellt, sondern sie waren offenbar unverzichtbarer Bestandteil der Koalitionsvereinbarung. Dass die Grünen sich darauf eingelassen haben, enttäuscht, und es wäre zu fragen, ob es auch für sie rote Linien vor Verhandlungsbeginn gegeben hat. Wir wissen es nicht.
Gewiss enthält das Regierungsprogramm nicht nur Negatives, das muss der Fairness halber gesagt werden. Da wäre etwa der Stellenwert, den die Elementarpädagogik einnimmt. Sie wird eindeutig aufgewertet, z.B. durch die angekündigte Erarbeitung eines neuen, einheitlichen Bildungs- und Betreuungsrahmenplans oder österreichweit einheitlicher Strategien zur Qualitätssicherung. Allerdings vermisst man einen der wichtigsten Punkte in diesem Bereich, nämlich das Bekenntnis zu einer tertiären Ausbildung, wie sie international üblich ist. Auch zu international üblichen Gruppengrößen zumindest als Zielvorstellung findet sich kein Wort.
Weitere grundsätzlich positive Absi-chtserklärungen sind so vage gehalten, dass eine valide Einschätzung schwer fällt. Da wäre etwa die Ankündigung, dass die Schulen künftig mehr Unterstützungspersonal erhalten sollten, also SchulsozialarbeiterInnen, SchulpsychologInnen, Assistenzpersonal und administratives Personal für die Pflichtschulen. Es wird weder ein Zeitrahmen genannt, noch werden Angaben über eine mögliche Finanzierung gemacht. Die bevorstehenden Budgetverhandlungen werden zeigen, ob das Ganze mehr ist als ein schönes Versprechen, das dann halt leider aus budgetärer Notwendigkeit nicht eingelöst werden kann.
Chancenindex: Etikettenschwindel
Der Ausbau ganztägiger Schulformen ist als Willenserklärung erfreulich, doch auch hier fehlen sowohl Zeitplan als Vorschläge zur Finanzierung. Ähnlich verhält es sich mit der medial durchaus positiv aufgenommenen Erklärung, Schulen mit besonderen Herausforderungen künftig mit zusätzlichen Ressourcen zu stützen. An 100 Pilotschulen soll das anhand eines „zu entwickelnden Chancen- und Entwicklungsindexes“ ausprobiert werden. Die ersten Reaktionen waren unter anderem auch deshalb so positiv, weil der Begriff „Chancenindex“ mit gezielter Unterstützung mehrfach benachteiligter Schulstandorte assoziiert wird. Was bei uns Chancenindex genannt wird, ist die Zuteilung von Ressourcen an Schulen, die nach Kriterien des Sozialindexes erfolgt und in mehreren Ländern seit Jahren praktiziert wird. In England wurde diese „Pupil Premium“ genannte Maßnahme 2011 sogar unter einer konservativen Regierung eingeführt. Kriterium ist dort das Anrecht auf ein kostenloses Mittagessen. Wichtig ist bei einem Chancenindex, dass die Zuteilung an die Schule pro Kopf erfolgt und die Schule dann über die zusätzlichen Ressourcen verfügen kann. Das ist wichtig zu erwähnen, denn genau das ist nicht geplant, und es wird auch von den Grünen nicht in Abrede gestellt. Vorgesehen ist, das hat Bildungsminister Heinz Faßmann auch mehrfach betont, dass die Schulen sich bewerben und ihren Bedarf begründen müssen. Vielleicht kommt dabei etwas Positives heraus, mit einem Chancen- bzw. Sozialindex hat das Ganze nichts zu tun und darf getrost als Etikettenschwindel bezeichnet werden.
Bei den besonders problematischen Deutschförderklassen gesteht man den Schulen bei der Umsetzung „die notwendige Gestaltungsfreiheit“ zu. Dass davon nicht viel zu erhoffen ist, wurde seitens des Ministeriums mehrmals klargestellt, denn die Trennung müsse bleiben, heißt es von dort.
Der größte Sündenfall im Regierungsprogramm aber sind die verschärften Zugangsbedingungen zur AHS. Man kann es getrost die Wiedereinführung einer Aufnahmeprüfung durch die Hintertür nennen. Die im 1. Semester der 3. Klasse Volksschule durchgeführte individualisierte Kompetenzfeststellung soll künftig bereits ein erstes Kriterium für die AHS-Reife darstellen. Dazu kommt künftig auch das Jahreszeugnis der 3. Klasse sowie wie bisher die Schulnachricht der 4. Klasse. Diese Maßnahme ist nicht nur pädagogisch gesehen völlig unsinnig, sondern verstärkt die soziale Ungerechtigkeit massiv. Kinder, die herkunftsbedingt Rückstände haben, werden es künftig noch viel schwerer haben, die Hürde mit zehn Jahren zu schaffen. Und das in einem Land, in dem die Bildungsungerechtigkeit so groß ist wie in kaum einem vergleichbaren.
Fazit: je genauer man sich dem Bildungsteil des Regierungsübereinkommens widmet, desto größer wird die Ernüchterung. Dass ein künftiges Ziel nicht einmal genannt wird, nimmt man bedauernd zur Kenntnis.
ZUR PERSON I Heidi Schrodt war Direktorin der AHS Rahlgasse in Wien, wo unter ihrer Leitung die drei Schulschwerpunkte Gender, Umwelt, Soziales weiterentwickelt wurden. Sie ist Vorsitzende der Bildungsinitiative “BildungGrenzenlos“ (www.bildunggrenzenlos.at). 2019 erschien ihr Buch “Handbuch Schulalltag. Ein Leitfaden mit Best Practice-Beispielen” im Verlag Jugend & Volk.
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo