Ausstiegsversuche
Wenn Menschen sich radikalisieren und in extremistische Szenen abgleiten, braucht es Ausstiegsarbeit und Deradikalisierungsmaßnahmen. Doch diese gestalten sich schwierig. In Österreich mangelt es an ausreichender Finanzierung, an Daten und an Therapieplätzen.
Text: Sarah Kleiner, Illustration: Eva Vasari.
Ein Beitrag im neuen MO - Magazin für Menschenrechte.
Jetzt mit einem MO-Solidaritäts-Abo unterstützen!
Wie aus der Radikalisierungsspirale rauskommen? Eine Haftstrafe alleine führt selten zu einer Distanzierung von Extremismus.
Boris kommt schon früh mit nationalsozialistischem Gedankengut in Berührung. Als er zwei Jahre alt ist, bringt ihm sein Vater den Hitlergruß bei. Boris lebt in Deutschland. Sein Vater ist bekennender Rechtsextremist, hat einschlägige Tattoos, ein Alkoholproblem und muss wegen Gewaltdelikten mehrmals ins Gefängnis. Als Jugendlicher driftet Boris selbst ins rechtsextreme Milieu ab. Er trinkt, geht in ein Boxtraining und fängt immer öfter Schlägereien an. Er sagt von sich selbst, er sei „autonomer Nationalsozialist“. Die Gewalt gebe ihm einen „Kick“. Nachdem Boris mit 17 Jahren einem anderen Jugendlichen dreimal mit einem Messer in den Oberkörper sticht, kommt er ins Jugendgefängnis.
Die Geschichte von Boris wurde im Rahmen des Forschungsprojekts „Exit Europe“ 2021 festgehalten. Dort wird er als „Klient X“ bezeichnet, wir nennen ihn hier Boris. Nach der Haft kommt der deutsche Jugendliche in ein Distanzierungsprogramm und versucht, die rechtsextreme Szene zu verlassen. „Exit Europe“ untersuchte im Auftrag des österreichischen Innenministeriums, welche Methoden bei dieser sogenannten Ausstiegsarbeit förderlich sind. Denn eine Haftstrafe allein führt selten zu einer Distanzierung vom Extremismus, ganz im Gegenteil findet im Gefängnis häufig noch eine weitere Radikalisierung statt. Im Rahmen der Ausstiegs- und Deradikalisierungsarbeit werden deshalb Antworten gesucht und erprobt.
_______
„WIR SEHEN AUSGRENZUNGSERFAHRUNGEN IN
DEN BIOGRAFIEN DER RADIKALISIERTEN“
_______
Ausgrenzung und Versagensängste
„Was wir in den Biografien der Personen sehen, die sich bereits im jüngeren Alter radikalisieren, sind Ausgrenzungserfahrungen, sei es Versagen in der Schule oder keinen Anschluss zu finden“, sagt Spiros Papadopoulos, „auch Beziehungsabbrüche vor allem mit einer männlichen Bezugsperson – ob durch Ableben oder Trennungen – sind oft in den Biografien unserer Klient:innen zu finden.“ Die Gründe für eine Radikalisierung seien vielschichtig, die Ideologie oder das extremistische Milieu könnten als Kompensation dienen, mit der Situation umzugehen. Eine wichtige Rolle spiele bei der Radikalisierung auch immer mehr das Internet und soziale Medien, in denen nach Antworten gesucht wird. Papadopoulos leitet die Wiener Niederlassung des Vereins Neustart, der in Österreich für die Bewährungshilfe zuständig ist und Menschen bei der Resozialisierung begleitet.
Bianca Kämpf vom DÖW sieht einen Mangel an Daten zu Personen der rechtsextremen Szene, vor allem im ländlichen Raum.
Bundesweit sind dort bei Neustart neben religiös motivierten Extremist:innen etwa 190 Personen in Betreuung, die wegen des Verbotsgesetzes verurteilt wurden und damit dem rechten, teilweise auch rechtsextremen Milieu zuzuordnen sind. Die Arbeit von Neustart zielt zuallererst auf die Abkehr von der Gewaltbereitschaft. Ideologien sind dabei oft zweitrangig. Denn die psychosozialen Faktoren, warum Menschen in den Extremismus abrutschen, ähneln sich. Ein geringes Bildungsniveau wird in unterschiedlichen extremistischen Szenen beobachtet, Alkohol- und Drogenkonsum sind fixer Bestandteil insbesondere des rechtsextremen Milieus. In den Biografien von Extremist:innen werden häufig Bedingungen im Aufwachsen beobachtet, die eine psychische und physische Gesundheit nicht gewährleisten. Vernachlässigung, Gewalt, Missbrauch – der Einstieg in ein extremistisches Milieu ist oft der Suche nach Sicherheit und Akzeptanz geschuldet. Ein Versprechen, das die Szenen zwar geben, aber nicht einhalten. „Was bei unserer Zielgruppe eine sehr wichtige Rolle spielt, sind therapeutische Maßnahmen“, sagt Papadopoulos. „Wir haben im Vergleich zu anderen EU-Ländern in Österreich Schwierigkeiten, therapeutische Stellen mit einem fachspezifischen Angebot für Extremismus zu finden, besonders im kommunalen Bereich.“
In einem „Nationalen Aktionsplan für Extremismusprävention und Deradikalisierung“ (NEKP) hat die österreichische Regierung im Mai eine Reihe von Maßnahmen beschlossen. Erarbeitet wurden sie vom Bundesweiten Netzwerk Extremismusprävention und Deradikalisierung, kurz BNED. Beteiligt waren neben Vertreter:innen unterschiedlicher Ministerien und vom Staatsschutz (DSN) auch zivilgesellschaftliche Organisationen wie Neustart oder die Beratungsstelle Extremismus in Wien. Zu den geplanten Maßnahmen zählen: Aufklärungsarbeit und Bewusstseinsbildung an Schulen, Förderung der gesellschaftlichen Resilienz durch Demokratiebildung, Ausbau der Jugendarbeit, mehr Beratungsangebote im Bereich Extremismus. Die Leiterin der Beratungsstelle Extremismus, Verena Fabris, kritisierte zuletzt nach dem Terrorverdacht rund um Taylor-Swift-Konzerte in Wien allerdings auf Ö1, dass die Finanzierung des Plans nicht ausreichend gesichert sei.
_______
„JE MEHR SZENE-EXTERNE KONTAKTE ES GIBT,
DESTO LEICHTER GELINGT DER AUSSTIEG“
_______
Großer Forschungsbedarf
„Uns mangelt es im Bereich Rechtsextremismus an systematischer und empirischer Forschung, an Studien und Zahlen zu der Szene, vor allem im ländlichen Raum“, sagt Bianca Kämpf vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW). Das DÖW ist Mitglied des BNED, Kämpf äußert sich hier aber nicht als offizielle Sprecherin. „Es gibt keine institutionalisierte Ausstiegsarbeit in Österreich, daher wissen wir auch nicht viel über die Gründe, warum Menschen aussteigen wollen oder über die Anzahl dieser Menschen.“ Kämpf begrüßt, dass im Rahmen des Aktionsplans ein klares Bekenntnis zu mehr Forschung formuliert wurde. „Was ich aufgrund meiner Beobachtungen der rechtsextremen Szene sagen kann, ist, dass es selten passiert, dass Leute, die entweder seit einem langen Zeitraum involviert sind oder bereits einen sehr hohen Ideologisierungs- und Überzeugungsgrad haben, sich abwenden und einen Sinneswandel durchleben.“
„Unsere Klient:innen erlebten oft Beziehungsabbrüche, vor allem mit männlichen Bezugspersonen“, sagt Spiros Papadopoulos.
Ausstiegsarbeit begleitet Menschen aus der Szene – ein Prozess, der Jahre dauern kann. Dafür werden die Biografien der Klient:innen im Rahmen von Gesprächen beleuchtet. Die wesentlichste Grundlage ist Vertrauen zwischen Praktiker:innen und Klient:innen. „Ausstiegsarbeit versteht sich als Teil der sozialen Arbeit und sollte in einigen Fällen von Psychotherapie begleitet werden“, sagt ein Berater der deutschen Ausstiegsberatung JUMP, der anonym bleiben möchte. Essentiell bei dieser Tätigkeit ist ein Sicherheitskonzept, das Mitarbeiter:innen und ihre Familien schützt. „Es gibt immer wieder Klient:innen, die eine psychische Erkrankung haben. In solchen Fällen muss man abwägen, inwieweit ein Ausstiegsprozess sinnvoll oder ob nicht eine Therapie davor zielführender ist“, sagt der Berater. Die Ausstiegsarbeit wird an jede Person angepasst. Sie beinhaltet nicht nur das Abbauen der Gewaltbereitschaft und das Aufbauen eines Lebens, das mit einer pluralistischen Gesellschaft vereinbar ist, sondern zum Teil auch das Ändern des gesamten sozialen Umfelds. „Wir suchen im Ausstiegsprozess oft nach Menschen, zu denen Klient:innen bis zu einem gewissen Punkt noch eine ganz gute Beziehung hatten, alte Freund:innen, Bekannte, Verwandte.“ Je mehr Szene-externe Kontakte es gebe, desto leichter sei es für die Leute, auszusteigen.
Und was tun, wenn man selbst als Angehörige:r betroffen ist? „Das Wichtigste ist, den Kontakt zu halten“, sagt der deutsche Experte. Die rechtsextreme Szene neige dazu, Personen zu isolieren. Es solle nicht zugelassen werden, dass eine emotionale Entkopplung zwischen Angehörigen und Betroffenen stattfindet. „Man muss sich immer vor Augen halten, was einem die Person wert ist“, sagt er. Dabei helfe, sich zu fragen, ob man damit leben könnte, die Person einer solchen Szene zu überlassen.
Boris hat den Ausstieg nicht geschafft. Seine anfängliche Motivation – die Geburt seiner Tochter kurz nach der Haft – löste sich auf, als er sich von der Mutter des Kindes trennte. Der Kontakt zu seiner Tochter brach ab. Mit rund einem Jahr war das Programm zu kurz angesetzt für einen erfolgreichen Ausstieg. „Klient X“ und zahlreiche engagierte Praktiker:innen zeigen auf, wie wichtig weitere Forschung und ein Ausbau solcher Angebote ist.
Sarah Kleiner lebt in Wien und arbeitet als Chefin vom Dienst beim Magazin „Arbeit und Wirtschaft“, das im ÖGB Verlag erscheint.
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo