
Blütenblätter
Von Leistungsträgerinnen ist oft die Rede. Mit „Markterfolg“ hat das im Leben aber wenig zu tun. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Kolumne: Martin Schenk
Gerlinde war gerade da. Ihr dreijähriger Sohn leidet seit seiner Geburt an schwerem Asthma. Seine Betreuung braucht viel Zeit. Das Einkommen ihrer Arbeit ist unregelmäßig und gering. Jetzt in der Krise wird alles noch schwieriger. Gerlinde leistet Außergewöhnliches, leisten kann sie sich nichts. Manchmal muss sie Hilfe aus der Mindestsicherung beantragen. Maria hat zwei Kinder im Alter von 11 und 16 Jahren. Vor einigen Wochen musste sie in Kurzarbeit gehen. Die Alimente wurden herabgesetzt, weil der Vater der Kinder arbeitslos geworden war. Marias Alltag: Zähneputzen, Deutsch, Biologie, arbeiten, Mathe, Englisch, kochen, putzen, Sportunterricht, Wäsche waschen, für die Firma erreichbar sein.
Gerlinde und Maria sind beachtliche Leistungsträgerinnen. Leistungsgerechtigkeit ist wichtig für unsere Gesellschaft. Man darf sie aber nicht mit Markterfolg verwechseln. Auch nicht mit bezahlter Arbeit. Um die Mutter mit Kindern, die sich mit drei prekären Minijobs abstrampelt dreht sich’s dann genauso wenig wie um den Hilfsarbeiter am Bau, den Mann im hundertsten mies bezahlten Forschungsprojekt oder die Kindergärtnerin. Die Verantwortung ist groß, das Einkommen klein.
Gerechtigkeit ist eine Blume, deren Blüte viele Blätter hat. Leistungsgerechtigkeit ist eines dieser Blütenblätter. Die anderen sechs sind die Verteilungsgerechtigkeit, die nach Verteilung von arm und reich fragt, die Chancengerechtigkeit, die meine Möglichkeiten in den Blick nimmt, die Teilhabegerechtigkeit, die über Mitbestimmung entscheidet, die Verfahrensgerechtigkeit, die mit ausverhandelten Prozessen autoritäre Willkür zu verhindern versucht und die Anerkennungsgerechtigkeit, die der Beschämung entgegentritt. Und nicht zu vergessen: die Bedarfsgerechtigkeit, also die Frage, was jemand wirklich benötigt. Mit einem Blütenblatt schaut unsere Blume nichts gleich, ohne all die anderen Blätter wäre ihre Schönheit zerstört.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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