
"Brüssel ist auch Wien"
„Wer nur mit seiner Fahne durch die Landschaft marschiert“, sagt der Europaabgeordnete Reimer Böge, der bringt am Ende keine Mehrheiten zustande. Es ist ein Plädoyer für Lösungen, die über die eigenen Landesgrenzen hinausreichen. Ein Blick nach Brüssel, wie es wirklich funktioniert. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Phillipp Saure Illustration: Eva Vasari
Wer ist „Brüssel“?
Brüssel ist Sitz der EU-Kommission sowie des Rates der EU. Auch das Europaparlament hat in der belgischen Hauptstadt seinen zweiten Standort neben dem französischen Straßburg. Faktisch arbeitet auch das Parlament die meiste Zeit in Brüssel. An der Spitze der Kommission steht seit 2014 der Luxemburger Jean-Claude Juncker. Juncker ist vom Europaparlament und den europäischen Staats- und Regierungschefs an die Spitze der Kommission gestellt worden. Die übrigen Kommissionsmitglieder wurden zunächst von ihrem Heimatland nominiert, bevor sie ebenfalls die Zustimmung von Parlament und Regierungen erhielten, darunter der Österreicher Johannes Hahn. Bereits 2009 schickte die damalige Große Koalition den ÖVPler nach Brüssel, wo er heute Nachbarschaftspolitik und EU-Erweiterung verantwortet. Direkt vom Volk gewählt werden die derzeit 751 Abgeordneten des Europaparlaments (nach dem Brexit voraussichtlich 705). Österreich ist mit elf Männern und sieben Frauen vertreten. Das Spektrum reicht von FPÖ (vier Abgeordnete) über ÖVP (fünf) bis zu Sozialdemokraten (fünf) und Grünen (drei), daneben eine Neos-Abgeordnete. Die EU-Mitgliedstaaten spielen demnach sowohl für die Kommission wie für das Parlament eine Rolle. Die Hauptrolle spielen sie aber im Rat. Dieser kommt als Europäischer Rat der Staats- und Regierungschefs bei den EU-Gipfeln zusammen. Darunter versammelt der Ministerrat die jeweiligen Ressortchefs, zum Beispiel Innen- oder AgrarministerInnen. Noch eine Ebene tiefer werden die EU-Länder durch Diplomaten repräsentiert, die „Ständigen Vertreter“. Österreichs Vertreter heißt seit August 2017 Botschafter Nikolaus Marschik.
Wie entsteht ein Gesetz?
Kommission, Rat und Parlament: Alle haben feste Aufgaben. Als „Motor“ der EU gilt die Kommission. In der Regel schlägt sie die Gesetze vor. Das tat sie beispielsweise im Mai und Juli 2016, als sie sieben Vorschläge für ein „Gemeinsames Europäisches Asylsystem“ präsentierte. Kern war die Reform der Dublin-Verordnung. Da bislang meist jener Staat für Asylsuchende zuständig ist, in dem erstmals EU-Boden betreten wird, waren Griechenland und Italien überlastet. Zugleich zogen MigrantInnen oft auf eigene Faust weiter in Länder wie Österreich und Deutschland. Die Reform soll die Verantwortung gerechter verteilen. Ihren Vorschlag schickt die Kommission an den Ministerrat und das Parlament. Diese suchen zunächst intern eine Position – in Arbeitsgruppen und Ausschüssen, auf Botschafter- und Ministerebene, mit vielen Berichten, Hunderten Änderungsanträgen und unzähligen Sitzungen. Im November 2017 hatte das Parlament den Dublin-Vorschlag durchgearbeitet und nach seinem Willen verändert. Der Tenor: Der Grundsatz des Ersteinreiselands wird gekippt, alle Länder müssen sich an der Aufnahme beteiligen. Hinter dem Vorschlag der schwedischen Liberalen Cecilia Wikström versammelten sich im federführenden Parlamentsausschuss neben ihrer Parteienfamilie fast die gesamte EVP einschließlich des ÖVPlers Heinz K. Becker wie auch die Sozialdemokraten mit Josef Weidenholzer (SPÖ) sowie Grüne und Linke. Die Mitglieder der drei rechten Fraktionen, darunter Harald Vilimsky (FPÖ), lehnten den Vorschlag ab. Im Plenum erreichte der Plan eine breite Mehrheit.
Österreich: „Paradigmenwechsel“
Trotzdem ist die Reform blockiert. Schuld ist aber nicht „Brüssel“, verantwortlich sind „Wien“, „Berlin“, „Budapest“, „Rom“ und so weiter, die sich im Rat nicht zusammenraufen konnten. Eine besondere Rolle spielte dabei Österreichs EU-Ratspräsidentschaft von Juli bis Dezember 2018. Der Vorsitz rotiert alle sechs Monate. Das jeweilige Land kann sich profilieren, indem es Themen setzt und Gipfeltreffen in der Heimat inszeniert, wie Österreich im September in Salzburg. Zugleich wird vom Vorsitzland erwartet, als „ehrlicher Makler“ Kompromisse zu suchen. Österreich allerdings ging auf dem Feld der Asylpolitik mit der Ansage eines „Paradigmenwechsels“ in die Präsidentschaft, wie besonders FPÖ-Innenminister Herbert Kickl nicht müde wurde zu betonen. Statt auf die Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen in Europa wolle man sich auf Grenzschutz und Zusammenarbeit mit Drittstaaten konzentrieren. Damit war den Ländern, die eine fairere Verteilung anstreben, von Vornherein der Wind aus den Segeln genommen. Erwartungsgemäß gab es (auch) unter österreichischer Präsidentschaft keinen Durchbruch bei den Dublin-Regeln.
Mitgliedstaaten: voll beteiligt
Selbst wenn ein Durchbruch geschafft worden wäre: Nach interner Einigung muss der Rat mit dem Parlament verhandeln. Die beiden sind auf den meisten EU-Politikfeldern gleichberechtigte Gesetzgeber. In „Trilogen“, bei denen als Vermittler die Kommission mit am Tisch sitzt, suchen Unterhändler nach dem endgültigen Gesetzestext, der abschließenden Lösung. Diese wird oft nach dramatischen Nachtsitzungen verkündet. So etwa am 30. Juni 2015, als man sich auf die Abschaffung der Roaming- Gebühren geeinigt hatte; dank des Gesetzes aus Brüssel fallen Preisaufschläge bei Telefonaten im EU-Ausland mittlerweile weg. Am Ende müssen Parlamentsplenum und der gesamte Rat das jeweilige Gesetz absegnen. Die Mitgliedstaaten sind also an der Erarbeitung der EU-Gesetze voll beteiligt. Darüber hinaus haben sie auch die Entscheidungsregeln mitbestimmt, also wie „Brüssel“ funktioniert. Hierzu gehört im Übrigen auch, dass die EU-Kommission darüber wacht, dass ein einmal verabschiedetes Gesetz eingehalten wird. So leitete die Behörde beispielsweise im Januar ein Verfahren gegen Österreich ein. „Wien“ habe ein EU-Gesetz von 2011 nicht richtig umgesetzt, meint die Kommission. Es sehe vor, dass PatientInnen nach einer medizinischen Behandlung im Ausland ihre Auslagen bis zu der Höhe erstattet bekommen, die im Inland gilt. Die Kommission dringt darauf, dass Österreich dies zum Wohl der PatientInnen garantiert – andernfalls kann sie am Ende den Europäischen Gerichtshof anrufen.
Wo liegt die Macht?
Die Brüsseler Macht ist auf die Kommission, das Parlament und den Rat verteilt. Die politischen Prioritäten legt laut Lissabon- Vertrag der Europäische Rat der Staatsund Regierungschefs fest. Die Kompetenz konkreter Lösungspläne liegt allerdings zuerst bei der Kommission, die im Regelfall allein Gesetzesvorschläge unterbreiten darf. Die Kommission mache in der Praxis wiederum keine Vorschläge, die bei den Mitgliedstaaten keine Aussicht auf Erfolg hätten, gibt ein Brüsseler Diplomat zu bedenken. Das Europäische Parlament seinerseits kann die Kommission zu Gesetzesvorschlägen auffordern. Falls sie das nicht tut, kann sie ihre Aufforderung sogar mit der Drohung versehen, dass man die Behörde anderenfalls abwähle, erklärt der deutsche CDU-Abgeordnete Reimer Böge. Ist ein Gesetzesvorschlag in der Welt und wird von Ministerrat und Parlament bearbeitet, kommt es meist zu so vielen Änderungen, dass am Ende ein Sieger schwer auszumachen ist. Der Politikwissenschaftler Michael Kaeding verweist darauf, dass beide Seiten gleichermaßen unter Erfolgsdruck stünden. „Daher wird jeder etwas bekommen, das ist ein gleichberechtigtes Spiel“, sagt der Professor für Europapolitik der Universität Essen-Duisburg. Im Einzelnen komme es dann vor allem auf das individuelle Geschick der UnterhändlerInnen von Rat und Parlament an.
Das Parlament umgehen
Der SPÖ-Abgeordnete Josef Weidenholzer sieht in den Verhandlungen einen strategischen Vorteil auf Seiten des Parlaments. „Die Kontinuität ist stärker“, sagt Weidenholzer und meint damit ein institutionelles Gedächtnis. Viele VolksvertreterInnen seien zwei oder drei Legislaturperioden präsent, hinzu komme das „lebendige Archiv“ des Stabes an MitarbeiterInnen. Mit diesem Wissen sei man dem Rat mit den wechselnden Vorsitzen überlegen. Andererseits, gesteht Weidenholzer zu, besitze der Rat Macht, das Parlament zu blockieren und zu umgehen. Denn bei normalen Gesetzgebungsverfahren kann das Parlament allein nichts beschließen – wie die stockende Dublin-Reform zeigt. Regelrecht umgangen würden das Parlament und auch die Kommission aber, wenn die Staats- und Regierungschefs sich außerhalb der EU neue Regelwerke schaffen. Das sei vor allem in der Staatsschuldenkrise etwa mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus geschehen, sagt Weidenholzer: „Vieles ist an den gemeinschaftlichen Institutionen vorbei intergouvernemental gelöst worden.“ Auf der anderen Seite, darauf weist der Forscher Michael Kaeding hin, hätten sich Kommission und Parlament in den ersten Jahren der laufenden Legislaturperiode mit regen Absprachen gleichsam zu Lasten des Rates verbündet: „Die Kommission verstand sich vor allem als Kommission des Parlaments.“ Das gehe zurück auf die gute Beziehung zwischen Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV) und dem damaligen Parlamentspräsidenten Martin Schulz (SPD), der sich seinerseits stark für Junckers Wahl zum Kommissionschef eingesetzt hatte, meint der Politikprofessor.
Bündnisse spielen große Rolle
Bündnisse und Macht spielen auch innerhalb der Institutionen eine große Rolle. Im Rat besitzen besonders die Großen wie Deutschland und Frankreich Vorteile. Sie verfügen bei Abstimmungen der MinisterInneren über mehr Stimmen, weil diese entsprechend der Bevölkerungszahl gewichtet werden. Unter den Staatsund Regierungschefs (Europäischer Rat) gilt zwar in der Regel das Konsensprinzip. Doch auch hier sind die Großen dank ihres politischen Gewichts und ihrer Ressourcen an Wissen und Personal im Vorteil. Die großen Länder würden zu jedem Thema etwas sagen, erklärt ein zweiter EU-Diplomat. Zwar sei Redezeit nicht gleichbedeutend mit Einfluss. „Aber wenn man nichts sagt, hat man überhaupt keinen Einfluss.“ Allerdings bilden sich im Europäischen Rat je nach Thema verschiedene Bündnisse, meint derselbe Diplomat. zahlenmäßig bei der Europäischen Volkspartei (EVP). Die Abgeordneten sind nämlich statt nach Nationalität zuvorderst nach politischer Richtung gruppiert, wobei die Spannweite groß ist – in der EVP sitzen neben der ÖVP auch die CDU und die spanische Partido Popular ebenso wie Ungarns Fidesz. Andererseits besitzt die EVP allein keine Mehrheit. Darüber hinaus ist die Volksvertretung sogar auf möglichst breite Mehrheiten angewiesen, um sich in den Verhandlungen mit dem Rat gut zu behaupten, erklärt der EUExperte Moritz Fessler von der Europa-Universität Viadrina. Das verschaffe den anderen Parteienfamilien Gewicht. In der Praxis ist nach Erfahrung des CDUAbgeordneten Böge auch persönliches Vertrauen sehr wichtig. Dieses habe ihm selbst beispielsweise ermöglicht, gemeinsam mit einer französischen Sozialistin einen Vorschlag zum Eurozonen-Budget durchzubringen. Der SPÖ-Abgeordnete Weidenholzer wiederum gibt an, dass die verschiedenen „Kulturen“ der einzelnen Ausschüsse, die etwa für Bürgerrechte oder die Industrie zuständig sind, den Blick auf Gesetze stark prägen. Zwar spiele die Nationalität eine Rolle – Weidenholzer verweist auf typisch österreichische Paradigmen wie den Verzicht auf Atomenergie und Neutralität –, allerdings keine allzu große. „Wer nur mit seiner Fahne durch die Landschaft marschiert“, sagt Böge, der bringe am Ende keine Mehrheiten zustande.
Was kann besser werden?
EU-Experte Moritz Fessler sieht einen dringenden Bedarf, dass sich die EU stärker demokratisiert. „Der beste Weg zu einer bürgernäheren EU ist über ein voll funktionsfähiges Parlament.“ Dazu zählt u.a. das Initiativrecht für Gesetze, dieses ist bislang der Kommission vorbehalten. Weiters sollte es europäische Wahlkreise geben, um die Ergebnisse gerechter zu machen. Bei den Wahlen 2014 hatten die Sozialdemokraten europaweit zwar mehr Stimmen erhalten als die Europäischen Volksparteien. Da aber die insgesamt konservativer geprägten kleineren EU-Länder mehr Abgeordnete pro Wähler bestellen dürfen, habe am Ende die EVP im Parlament mehr Sitze erhalten, gibt Fessler zu bedenken. Und noch einen Punkt führt Fessler an, um die Stukturen zu verbessern: Gut wäre, wenn „vollumfängliche“ Europaparteien dafür sorgen, dass die nationalen Parteien und damit die Nationen eine kleinere Rolle für die Parlamentarier und Parlamentarierinnen spielen. Der Abgeordnete Josef Weidenholzer schlägt u.a. eine „Parlamentarisierung“ des Rates an. Ähnlich wie beim US-Senat sollten die VertreterInnen der Mitgliedstaaten nicht bestimmt sondern gewählt werden. Sein Kollege Reimer Böge wünscht sich, dass die nationalen Parlamente den Regierungen „stärker auf die Finger klopfen“, wenn diese ihre VertreterInnen nach Brüssel schicken, um dort EU-Gesetze zu beschließen. Schließlich müssten die Vorschriften in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden – womit wieder „Berlin“, „Wien“ und so weiter am Zug wären. Unabhängig von Verbesserungsvorschlägen zu den EU-Institutionen legt Michael Kaeding Wert auf die Bereitschaft, Angelegenheiten der anderen immer auch als europäische Fragen zu sehen: „Nur wenn Österreicher und Deutsche sich füreinander interessieren und dafür, was die Polen bewegt oder wo die Malteser Probleme haben, funktioniert die Europäische Union.“
Phillipp Saure berichtet seit zehn Jahren als Brüsseler Korrespondent über die europäische Politik.
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