
Da fühlt man sich als Außenseiter
Ich werde wütend, wenn Leute nicht wählen gehen, obwohl sie könnten, sagt Kazbeg. Er lebt fast sein ganzes Leben hier, ist aber von den Wahlen ausgeschlossen. So wie den vier Jugendlichen im Gespräch geht es 72.000 anderen jungen Menschen. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview, Fotos: Milena Österreicher
Bei der Wien-Wahl am 11. Oktober 2020 werden über 72.000 Menschen zwischen 16 und 24 Jahren nicht wählen dürfen, da sie keine österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Ihr seid alle hier aufgewachsen, in Kindergarten und Schule gegangen. Wann wurde euch dieser Wahlausschluss bewusst?
Tekla: Die erste politische Ausgrenzung, die ich spürte, war mit 16 Jahren, als Nationalratswahlen waren. Alle aus meiner Klasse konnten wählen gehen, nur ich konnte meine Stimme nicht abgeben. Das war sehr frustrierend, aber es hat mir Motivation gegeben, andere zum Wählen zu ermutigen.
Kamila: In meiner Schule sagten die Professoren auch: Ihr müsst unbedingt wählen gehen. Es gab dann Jugendliche, die die Möglichkeit gehabt hätten, aber es interessierte sie nicht. Und es gab welche, die nicht wählen durften, und deshalb meinten, sie müssen da ja gar nicht zuhören, weil, wozu auch? Sie dürfen sowieso nicht wählen gehen.
Kazbeg: Ich werde wütend, wenn Leute nicht wählen gehen, obwohl sie könnten. Menschen kämpften früher dafür. Es war so ein langer Weg, für Frauen zum Beispiel. Und dann nutzt man die Chance nicht, dass man mitentscheiden darf. Ein Sprichwort, das gut dazu passt: Ein gesunder Mensch hat tausend Wünsche, ein kranker Mensch hat nur einen. Man schätzt also nur Sachen, die man nicht hat. Und wenn ich von Geburt an wählen darf, dann schätze ich das oft nicht.
Nahezu ihr ganzes Leben in Österreich, aber von den Wahlen ausgeschlossen: Tekla Scharwaschidze, 20, Studentin; Ibragim Kavkaliev, 16, Schüler.
Kamila: Ich wollte mich jetzt für den Wiener Gemeinderat aufstellen lassen, doch es geht wegen der Staatsbürgerschaft nicht. Da merke ich, dass etwas falsch läuft. Ich lebe schon über 16 Jahre hier.
Kazbeg: Ich war bei den Bundespräsidentenwahlen 2016 der Einzige ohne österreichische Staatsbürgerschaft in der Klasse. Bei diesen Wahlen habe ich mich zum ersten Mal so richtig damit beschäftigt, dass ich in dem Land, in dem ich aufgewachsen bin, nicht mitbestimmen kann, obwohl das, was dann in der Politik entschieden wird, auch für mich gilt. Da fühlt man sich als Außenseiter. Und: Norbert Hofer ist angetreten und ich dachte, dass ich eventuell Probleme bekomme, wenn er gewinnt.
Tekla: Wir hatten auch Angst bei der Bundespräsidentschaftswahl und fragten uns: Was wird mit uns passieren, wenn Norbert Hofer gewinnt?
Kazbeg: Und die Medien verschlimmern das Gefühl. Sie schreiben immer, dass die Tschetschenen nur Probleme machen. Ich habe das Gefühl: Österreich will uns nicht, Tschetschenien will uns nicht. Dort bist du Tourist und hier bist du auch nicht willkommen. Wohin soll ich denn gehen?
Ibragim: Wenn man hier aufwächst, zieht man sich anders an, denkt man anders. Dann gehört man in seinem alten Land nicht mehr dazu. Ich bin 19 Jahre alt und lebe seit 16 Jahren in Österreich. Wir haben aber vor einigen Monaten die Nachricht bekommen, dass uns der subsidiäre Schutz entzogen wird, weil es in unserem Heimatland jetzt angeblich besser geworden ist. Ich habe schon Angst, aber jetzt warte ich einmal, was passiert.
Tekla: Wir haben zwölf Jahre auf Asyl gewartet. Das nimmt einen echt mit. Dann haben wir die Aufenthaltsbewilligung bekommen, aber die zwölf Jahre, die wir davor in Österreich lebten, fielen automatisch weg. Und für die Staatsbürgerschaft muss man ja unter anderem zehn Jahre Aufenthalt nachweisen.
Ibragim: Und sie kostet auch viel.
Nervt euch die ständige Rede von Integration?
Kazbeg: Ja. Ich habe mein Leben lang geschaut, dass ich mich integriere: gut Deutsch lerne, in der Schule aufpasse, keine Probleme mache. Trotzdem heißt es immer noch: Ja, aber die Tschetschenen… Verhalten und Lebensweisen kann man anpassen, aber dein Aussehen wirst du niemals „integrieren“ können. In 20 Jahren habe ich vielleicht die Staatsbürgerschaft, aber dann wird immer noch gesagt werden: Ok, aber du siehst aus wie ein Tschetschene.
Tekla: Absolut, die Staatsbürgerschaft ändert die Fragen dann auch nicht: Wo kommst du ursprünglich her? Und du sprichst schon sehr gut Deutsch, gell? Du kannst dich weiterbilden, studieren etc., aber äußerlich bleibst du gleich.
Erlebt ihr Ausgrenzung und Rassismus im Alltag?
Kamila: Ja, ich war zum Beispiel beim Billa am Praterstern und rief meine Mutter an, um zu fragen, was ich einkaufen sollte. Ich sprach auf Tschetschenisch. Hinter mir stand ein Österreicher, drehte sich um und sagte: „Du Tschuschin, sprich Deutsch“. Das traf mich schon, weil ich mich in diesem Land eigentlich so wohlfühle und ich hier aufgewachsen bin, meine Ausbildung gemacht habe und meinen Beitrag leiste.
Kazbeg: Meine Erfahrungen mit Rassismus machte ich auf der Straße mit Polizisten. Einmal kontrollierten sie zum Beispiel die Ausweise und Sachen von mir und einem Freund. Sie fanden nichts und sagten dann: „Was seid ihr für Tschetschenen? Habt ihr keine Waffen?“
Tekla: Habt ihr auch das Gefühl, dass ihr immer ein Vorbild sein müsst und zeigen wollt, dass „wir“ eh nicht so sind? Für uns Jugendliche ist das schon sehr anstrengend, finde ich, sich immer beweisen zu müssen und immer mehr zu machen als eigentlich gefordert ist, damit man die Vorurteile sprengt.
Ibragim: Ja, vor allem in der Schule.
Kamila Iliasova, 18, Maturantin; Kazbeg Khaladov, 19, Maturant. Wie gehen sie mit dem politischen Ausschluss um?
Kamila: Ja. Ich habe das Gefühl, du musst und darfst dich bis zu einem bestimmten Punkt integrieren, aber ab diesem Punkt bist du bei einer Decke angelangt und merkst: So weit kann ich mich integrieren, weiter darf ich aber nicht kommen. Ich bin jetzt 18 Jahre geworden und habe die Staatsbürgerschaft beantragt, merkte aber bei den Bedingungen, dass ich die gar nicht erfüllen kann, da ich bis dato bei meinen Eltern lebte und nichts verdiente. Die Generation unserer Eltern war eine andere. Sie hatte eine noch schwierigere Integration und dachte nicht daran nach zehn, fünfzehn Jahren die Staatsbürgerschaft zu beantragen. Das sind Probleme mit denen wir, die nächste Generation, uns jetzt beschäftigen müssen.
Kazbeg: Meine Eltern waren nie so daran interessiert. Sie arbeiteten ihr Leben lang, sprachen nicht gut Deutsch und wussten auch nicht genau, wohin sie sich wenden sollten. Ich habe vor drei Jahren erst gecheckt, welche Nachteile ich dadurch habe. Da ich jetzt 18 bin, werde ich die Sache mit der Staatsbürgerschaft jetzt selbst mit der Hilfe einer Jugendarbeiterin angehen.
Tekla: Mein Vater meinte, dass er seine Staatsbürgerschaft, die Georgische, gar nicht aufgeben möchte. Es ist etwas, das ihn an seine Heimat erinnert und das würde er gerne behalten.
Kazbeg: Ich würde meine sofort hergeben.
Ibragim: Ich auch, das wäre kein Problem für mich.
Kazbeg: Wo ich auch einen Nachteil merkte, war bei Bewerbungen. Ich und ein Freund bewarben uns für eine Stelle. Mir sagten sie ab. Sie meinten, das sei zu viel Papierarbeit für sie, da ich keine österreichische Staatsbürgerschaft habe. Er hat die Staatsbürgerschaft und ihn hätten sie genommen.
Kamila: Ich sah das auch bei meinem Bruder, der unbedingt auf die Polizeischule gehen wollte, das war immer sein Traum, und es scheiterte dann wirklich an der Staatsbürgerschaft.
Tekla: Mir wurde für Bewerbungen empfohlen, dass ich bei meiner Muttersprache auch Deutsch dazu schreibe, nicht nur Georgisch, da schon mein Name so kompliziert klingt. Seitdem schreibe ich das immer dazu.
Kazbeg: Die vielen Sprachen könnten ja ein Vorteil sein, aber die Menschen wollen kein Tschetschenisch hören. Wenn ich fließend Französisch oder Spanisch sprechen würde, würde das gut ankommen. Aber Tschetschenisch nicht.
Ibragim: Das klingt wohl zu gefährlich.
Fühlt ihr euch von der Politik angesprochen?
Tekla: Ich finde, noch nicht ausreichend. Dass wir politisch interessiert sind, sah man ja dieses Jahr mit den „Fridays for Future“- oder „Black Lives Matter“-Demonstrationen. Junge Menschen haben etwas zu sagen. Ich finde es auch super, dass zum Beispiel die Jugendzentren das Thema politische Bildung aufgreifen.
Kazbeg: Die Demos haben aber nicht viel gebracht, nur kurze Aufmerksamkeit. Ich war auf einer Demo gegen die Verfolgung der Uiguren in China, aber dann ist das Thema so schnell wieder abgeflacht.
Tekla: Demos sind ja da, um Aufmerksamkeit zu schaffen. Für den Rest ist auch die Politik zuständig.
Kazbeg: Ok, da muss ich zustimmen.
Tekla: Veränderungen finden ja auch längerfristig statt. In fünf Jahren wird sich das Staatsbürgerschaftsrecht vielleicht noch nicht geändert haben, aber man muss dranbleiben. Ich finde, wenn es sich lohnt, dann sollte man dafür kämpfen. Und es lohnt sich irgendwann.
Kazbeg: Das stimmt. Man sieht jetzt auch schon mehr Polizisten und Politiker mit Migrationshintergrund. Eigentlich würde ich gerne sagen, dass ich Österreicher bin, aber ich weiß nicht, ob ich das darf. Darf ich?
Tekla: Natürlich. Vielleicht ist Heimat keine Entscheidung, sondern ein Gefühl.
ZU DEN PERSONEN:
Tekla Scharwaschidze, 20 Jahre, Studentin, Gewinnerin des mehrsprachigen Redewettbewerbs „Sag’s Multi“ 2014/2015, „European Student Think Tank“-Botschafterin, Vorstandsmitglied des „Sag’s Multi/Konnex Alumni Clubs“, geboren in Georgien, lebt seit 18 Jahren in Österreich.
Kamila Iliasova, 18 Jahre, Maturantin, Gewinnerin des mehrsprachigen Redewettbewerbs „Sag‘s Multi“ 2016/2017, im Vorstandsteam des Vereins Serlo und ehrenamtlich u.a. beim Verein „Wirtschaft für Integration“ sowie bei „START Stipendium“ tätig, geboren in Tschetschenien, lebt seit 16 Jahren in Österreich.
Ibragim Kavkaliev, 19 Jahre, Schüler, geboren in Georgien, lebt seit 16 Jahren in Österreich.
Kazbeg Khaladov, 19 Jahre, Maturant, geboren in Tschetschenien, lebt seit 17 Jahren in Österreich.
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