
„Dann sollte man sofort Stopp sagen“
Jede fünfte Pflegekraft in Österreich ist von sexueller Belästigung betroffen. Gesprochen wird darüber kaum, von offizieller Seite gehandelt noch weniger. Ein drängendes Tabuthema in einer Branche, die heute schon mit Personalmangel kämpft. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Milena Österreicher
Susanne Pichler* ist Anfang zwanzig als sie ein Praktikum in einem Altenpflegeheim absolviert. Als sie eines Tages den Lift nehmen möchte, öffnet sich die Tür, der ältere Mann darin fragt: „Willst du ficken?“. „Ich war komplett perplex“, erzählt die diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin zwanzig Jahre später, „ich brachte nur heraus, dass ich lieber zu Fuß gehen würde“. Im Laufe ihrer Berufstätigkeit blieb es nicht nur bei verbalen Übertritten. Pograpschen, Streifen an der Brust oder zu tiefe Hände an den Hüften bei Mobilisationsübungen zählten zu den unerwünschten Annäherungen.
Berufe wie jener von Pichler sind besonders der Gefahr einer sexuellen Belästigung ausgesetzt. Schließlich hat der Großteil der Pflege und Betreuung von älteren, kranken oder verletzten Personen mit (intimem) Körperkontakt zu tun.
Anzügliche Bemerkungen, Pograpschen, Berührungen an der Brust: Sexuelle Belästigung äußert sich in verschiedenen Formen. Wichtig für die Betroffenen: Grenzen zeigen und Unterstützung holen.
Hohe Dunkelziffer
Laut einer Erhebung des Sozialministeriums aus dem Jahr 2021 ist in Österreich jede fünfte Pflegeperson regelmäßig von sexueller Belästigung durch Patient*innen betroffen. Die diplomierte Krankenpflegerin und Sexualpädagogin Elke Kieweg schätzt die Dunkelziffer höher. „Die Gründe, warum es zu sexueller Belästigung kommt, sind vielschichtig“, berichtet sie. Bei Hirn-degenerativen Erkrankungen wie Demenz kann es zu einem Verlust des Kontrollzentrums kommen. Dadurch fallen Hemmungen und Menschen agieren oft impulsiv. Manchmal stecke schlicht ein Wunsch nach Nähe und Berührung dahinter. Manche Patient*innen fühlen sich auch etwa angesichts der Erkrankung oder des körperlichen Zustands ohnmächtig. „Hier werden verbale Übergriffe genutzt, um der Position des Ausgeliefertseins etwas entgegenzusetzen“, erklärt Kieweg.
Hinzu komme auch die Sozialisierung in einer patriarchalen Gesellschaft. „Wenn ich mein Leben lang gewohnt war, Grenzen von Frauen nicht wahrzunehmen und darüber zu gehen, überraschen solche Vorfälle wenig“, ergänzt Kieweg. Sie bietet mittlerweile Workshops und Seminare zum Thema Pflege und Sexualität an.
Die diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin Elke Kieweg bietet Kurse zum Thema Pflege und Sexualität an. Bedarf wie Nachfrage nach den Workshops der Sexualpädagogin sind groß.
Normalisiertes Tabu
Für Maria Inas* war es lange Zeit normal „Schätzchen, Mäuschen, Mädel“ von Patienten gerufen zu werden. „Ich habe vieles nicht als Belästigung wahrgenommen, weil es irgendwie dazugehört hat“, sagt Inas. Das Du-Wort gegenüber der diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegerin war eine Selbstverständlichkeit.
Als Maria Inas ihre Ausbildung absolvierte, fotografierte ein Patient sie mit dem Handy, während sie Pflegetätigkeiten durchführte. Sie ging zur Stationsleitung, die den Mann daraufhin zur Rede stellte. Er versicherte, die Fotos bereits gelöscht zu haben. Sein Handy herzeigen wollte er nicht. „Immerhin musste ich nach dem Vorfall nicht mehr zu ihm gehen“, erzählt Inas.
Auch die Kleidung habe wenig geholfen. „Am Anfang der Ausbildung mussten wir immer einen kurzen weißen Kittel tragen, der aussah, wie ein enganliegendes Kleid“, berichtet die Pflegerin. So war auch die Unterwäsche darunter erkennbar, andere Kleidung war wegen Hygienevorschriften nicht erlaubt. Das trage zu dem Bild der „sexy Krankenschwester“ bei. „Das ist natürlich trotzdem keine Einladung, anzügliche Sprüche zu machen. Wohlgefühlt habe ich mich in der Kleidung aber nie“, so Inas. Der Wechsel zu Hose und langärmligen Shirt nach der Ausbildungszeit war eine befreiende Abwechslung.
Kritische Arbeitsbedingungen
„Wir haben einen Pflegenotstand in Österreich“, sagt Elke Kieweg. Wann, wenn nicht spätestens jetzt, sollte man auf die Arbeitsbedingungen in der Branche schauen? Laut einer Auswertung des Sozialministeriums im Jahr 2021 halten es 65% aller Befragten im Pflegesektor für unwahrscheinlich den Beruf bis zur Pension auszuüben. 15 % hatten bereits zum Befragungszeitpunkt konkrete Absichten den Tätigkeitsbereich oder den ganzen Beruf zu wechseln. Die Hälfte der Befragten gab an, regelmäßig körperliche Gewalt und Beschimpfungen, durch die betreuten Personen, zu erleben.
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FÜR VIELE ALLTAG: „SCHÄTZCHEN UND MÄUSCHEN“
VON PATIENTEN GERUFEN ZU WERDEN
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„In Deutschland gibt es inzwischen ein größeres Bewusstsein für das Thema als noch vor ein paar Jahren“, sagt die psychologische Beraterin und Mediatorin Gabriela Koslowski, die 2021 den Handlungsleitfaden „Sexuelle Übergriffe und Gewalt im Pflegealltag: So setzen Sie sich erfolgreich zur Wehr“ veröffentlichte. Auch Kliniken seien oft mit der Situation überfordert. In vielen deutschen Krankenhäusern werden mittlerweile Gleichstellungsbeauftragte oder Ansprechpersonen für Übergriffe und Gewalt eingesetzt.
Mythos Sexualität
In Österreich sind Elke Kiewegs Workshops zu Pflege und Sexualität meist ausgebucht, die Nachfrage reißt nicht ab. Wichtig sei ein Basiswissen, das oft nicht in der Ausbildung gelehrt werde. „Zum Beispiel der Unterschied zwischen Erektion und Erregung: Durch Berührung, zum Beispiel bei der Intimpflege, kann ein Erektionsreflex ausgelöst werden, der nicht immer im Zusammenhang mit einer Erregung steht“, sagt Kieweg. Dennoch sollte man, egal, ob sexualisierte Intention oder nicht, die Situation verlassen: „Wenn es zu verbalen Äußerungen à la ‚Leg dich zu mir ins Bett‘ oder ‚Da geht es meinem dritten Bein gleich besser‘ kommt, sollte man sofort Stopp sagen, rausgehen und gegebenenfalls Hilfe holen“. Bei 24-Stunden-Betreuer*innen oder Hauskrankenpfleger*innen ist dies nochmals schwieriger: Sie arbeiten alleine dort, wo die Klient*innen leben.
Manchmal könnten bereits kleine Maßnahmen helfen. Eine Versorgungs- und Inkontinenzschwester, die bei Kieweg ein Seminar besuchte, vereinbarte daraufhin beispielsweise mit ihrem 80-jährigen Patienten mit Dauerkatheter, dass sie ihn eine gewisse Zeit alleine lässt, bevor sie den neuen Katheter setzt. So hat er Zeit und Privatsphäre, seine Erotik zu leben.
Irina Igerc unterrichtet im Pflegestudium der FH Wiener Neustadt: „Wir brauchen mehr Wissen um die Sexualität der Patient*innen“.
Fehlendes Wissen
„Patient*innen sehen Pflegekräfte oft als die ersten Ansprechpartner*innen. Sie verbringen viel Zeit mit den Menschen, das Vertrauensverhältnis ist groß“, sagt Irina Igerc, die an der FH Wiener Neustadt im Grundstudium für Pflege unterrichtet. Dementsprechend müsste das Wissen um die Sexualität der Patient*innen in die Pflegeausbildung einfließen, was es derzeit unzureichend tue.
„Es gibt wenig fundierte deutschsprachige Literatur zum Thema“, berichtet Igerc. Sie forscht derzeit im Rahmen ihrer Dissertation zur Sexualität von chronisch Erkrankten und sucht dafür Interviewpartner*innen, die von chronischen Erkrankungen wie etwa Multipler Sklerose, Parkinson oder Epilepsie betroffen sind.
Fürsorgepflicht umsetzen
Verbale und körperliche Übergriffe sind Grenzüberschreitungen und laut Gleichbehandlungsgesetz eine Form von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. „Betroffene, die in der Arbeitswelt auf Basis privatrechtlicher Verträge tätig sind, können sich bei uns melden, wenn sie von Diskriminierung und/oder Belästigung betroffen sind“, sagt Flora Alvarado-Dupuy von der Gleichbehandlungsanwaltschaft. Der/Die Arbeitgeber*in hat eine Fürsorgepflicht und muss Handlungen setzen, die (weitere) Belästigungen verhindern.
Susanne Pichler machte hingegen die Erfahrung, dass Vorgesetzte kaum mit Verständnis reagierten – „das gehöre eben dazu zum Beruf“ – und dementsprechend auch keine Maßnahmen trafen. Deshalb sprachen Pichler und ihre Kolleg*innen lieber unter sich über die Vorfälle.
„Man steht schon so unter Druck“, beschreibt die diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin den Arbeitsalltag. Acht Minuten seien pro Patient*in vorgesehen: Körperpflege, Wechsel der Inkontinenzwäsche, Toilettengang, Nahrungsaufnahme. „Eine Grenzüberschreitung nimmt man in dem Stress dann auch mal einfach so hin“, sagt sie, „eigentlich traurig“. Nach 17 Jahren Berufserfahrung erlange man schon eine gewisse Abgebrühtheit.
Frauensache?
Sexuelle Belästigung in der Pflege betrifft nicht nur Frauen. Doch bei Männern scheint es ein noch größeres Tabu zu sein. „Wer von den jungen Pflegern sagt schon gern: Die 75-jährige Frau Müller hat mir in den Schritt gefasst. Was soll ich nun machen?“, veranschaulicht Mediatorin Gabriela Koslowski ein Beispiel. Es gebe allgemein noch viel Bedarf an Aufklärung und Unterstützung.
Auch Sexualpädagogin Elke Kieweg meint abschließend: „Wir müssen in der Gesellschaft den Mythos auflösen, dass Sexualität im Alter, bei Behinderung oder Erkrankung kein Thema mehr wäre“. Für Pflegepersonen hält sie eine Anlaufstelle nach dem Vorbild von vera*, der Vertrauensstelle gegen Belästigung und Gewalt in Kunst, Kultur und Sport, die im Frühjahr 2021 eingesetzt wurde, für sinnvoll. Betroffene würden sich oftmals aus Scham oder Ängsten nicht ihren Kolleg*innen oder Vorgesetzten anvertrauen.
Bisher ist von solch einer Stelle im öffentlichen Diskurs noch kaum etwas zu hören. Auch wenn es bereits jetzt einen – vorerst noch leisen – Aufschrei Betroffener gibt.
*Namen von der Redaktion geändert
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