„Dann verkaufen wir unsere Seele“
Der Migrationsforscher Gerald Knaus gilt als Initiator des Flüchtlingsdeals zwischen der EU und der Türkei. Ein Gespräch über Moria, eine notwendige Ethik der Asylpolitik, unsere Grundwerte und die Kampagne Ungarns gegen seine Person. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Alexander Pollak, Gunnar Landsgesell
Herr Knaus, was führt Sie nach Wien?
Ich bin auf Einladung der „Initiative Menschenwürde“ hier, morgen treffe ich den Bundespräsidenten, und es gibt noch ein paar Interviews. Das ist auch eine gute Gelegenheit, zu versuchen, besser zu verstehen, wie die Diskussion in Österreich verläuft.
Glauben Sie, lässt sich der Kurs in der Migrationspolitik, wie ihn die ÖVP unter Kanzler Sebastian Kurz fährt, beeinflussen?
Ja, ganz sicher. Wir können zwar globale Probleme nur schwer beeinflussen, aber warum wir in der EU selbst unnötiges Leiden produzieren, obwohl wir etwas tun könnten – auf diese Frage gibt es von der Bundesregierung keine gute Antwort. Dabei wäre es möglich, eine politische Strategie zu entwickeln und zu helfen, ohne dass neues Leid erzeugt wird. Und zwar anders als der Bundeskanzler, der mit dem Argument davor warnt, Kinder zu holen, weil damit nur weitere hilfsbedürftige Kinder kommen würden. Es gibt Möglichkeiten, menschenrechtskonform auf eine Weise zu agieren, die in Österreich auch mehrheitsfähig wäre.
Knaus: Mit dem von ihm mitgegründeten Think-Tank „European Stability Initiative“ (ESI) sehr aktiv.
Unsere Debatte wird oft von der Frage geleitet: „Was nützt uns?“
Ich glaube, dass man bei der Suche nach Mehrheiten immer mit der Frage beginnen muss: „Was nützt uns?“ Dazu gehört aber auch, bestimmte Werte zu bewahren. Diese Werte sollen ja auch uns schützen. Die Idee der Menschenwürde etwa – eine radikale Idee. In den 1930er-Jahren gab es auf der Welt nur eine Verfassung, in der das verankert war, in der irischen. Oder die Idee, dass irreguläre Migranten und Asylsuchende Rechte haben, etwa das Recht, dass geprüft wird, ob sie begründete Furcht vor Verfolgung haben. – Das ist eine noch radikalere Idee. Eine Idee, die es im Zweiten Weltkrieg nicht gab, deshalb wurden Juden an den Grenzen abgewiesen. Diese einstmals radikalen Ideen gehören für mich aber heute zu den Interessen einer europäischen Demokratie. Aber selbstverständlich sind Politiker vor allem auch an Entscheidungen interessiert, die eine Bevölkerung annimmt. Etwa, wenn es um die Angst vor Kontrollverlust geht. Die Frage ist nun: Wie lassen sich diese beiden Interessen verbinden? Ich meine, Kontrolle ohne Werte gefährdet auch uns selbst. Die Menschenrechtskonvention, die Grundrechte-Charta und die Flüchtlingskonvention sind ganz eindeutig Teil unserer Werte, unserer Identität. Ein ständiger Rechtsbruch an den Außengrenzen wegen einer relativ überschaubaren Menge von Menschen, die über das Mittelmeer kommt, ist damit nicht vereinbar.
Ungarns Regierungschef Viktor Orbán sieht das wohl anders. Er hat seit der großen Flüchtlingsbewegung seine Maßnahmen massiv verschärft. Andere Staaten sind nachgezogen.
Orbán hielt am 4. September 2015, zwei Tage nach den Bildern des tot am Strand angeschwemmten syrischen Jungen Alan Kurdi, eine triumphierende Rede. Er sagte voraus, dass Europa angesichts dieser „Krise“ bereit sein würde, seine Unterstützung für universelle Menschenrechte aufzugeben. Die Europäer seien Heuchler, sie wollen eigentlich, dass man diese Menschen abhält, egal mit welchen Mitteln. Orbán bezeichnete das als „erste positive Identitätskrise“ und meinte damit die Identität der liberalen Menschenrechte. Ich las diese Rede und mir war klar, dass das ein Programm für die nächsten Monate ist. Und dass es großen Erfolg versprach, wenn dem nichts entgegengesetzt würde. Daraus entstand unser Vorschlag, dass europäische Länder der Türkei anbieten, Flüchtlinge direkt zu übernehmen. Sodass sie in der Türkei nicht in Boote steigen müssen. Im Gegenzug wollten wir Kontrolle schaffen, indem wir die, die trotzdem noch in Boote steigen, obwohl sie in der Türkei sicher sind, nach einem fairen Asylverfahren zurückschicken können.
Vordenker Gerald Knaus: Er plädiert dafür, den Migrationskurs aktiv mitzugestalten.
So wie Sie Ihr Konzept skizzieren, dass Menschen direkt von der Türkei aufgenommen werden, wurde es ja nie umgesetzt. Wie zufrieden sind Sie trotzdem mit dem Deal?
Diese politische Vereinbarung funktioniert nur so lange sich beide Seiten daran halten. Das ist seit Ende Februar 2020 nicht mehr der Fall. Bis dahin hatte sie enorme Wirkung. Immerhin war das die größte humanitäre Hilfe der EU für einen Drittstaat. Es wurden sechs Milliarden Euro versprochen, drei davon wurden ausgegeben. Das hat die Situation der Syrer in der Türkei dramatisch verbessert. Aber das ist ja nicht vorbei. Die Kosten gehen weiter, die Zahl der Syrer wächst weiter, die Türkei selbst ist in einer Wirtschaftskrise. Politisch ist der Druck von Seiten der Opposition gewachsen, sie hat in Istanbul gewonnen und in ihrem Wahlkampf gemeint, dass es zu viele Syrer gibt. Ich denke, die EU muss sich weiter engagieren, denn die Vereinbarung hat vier Jahre lang funktioniert. Aber das reicht nicht. Die EU sollte der Türkei erneut, für die nächsten fünf Jahre, eine ähnliche Hilfe anbieten. Womit man hingegen überhaupt nicht zufrieden sein kann, ist: obwohl die Zahl der Ankommenden so schnell gefallen ist, dass es absolut möglich gewesen wäre, die menschenrechtskonforme Aufnahme und das Verfahren für Menschen auf den griechischen Inseln zu gewährleisten, hat man das verabsäumt. Die Behauptung, dass das unmöglich ist, halte ich geradezu für gefährlich. Denn: Falls es in Europa unmöglich sein soll, innerhalb von ein paar Wochen zu entscheiden, ob 2.000 Menschen, die pro Monat ankommen, Schutz in Europa erhalten, dann hat der Asylgedanke auch weltweit keine Chance. Europa hätte das mit 200 Beamten bewerkstelligen können.
War das Teil einer Strategie der Abschreckung? So wie auch Bundeskanzler Kurz meinte, es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen?
Ja, das Problem ist, Abschreckungspolitik funktioniert. Wenn man einen Zaun baut, den durch Soldaten bewachen lässt, kommt niemand mehr. Man hat während der NS-Zeit gesehen, dass Juden nicht mehr in die Schweiz kamen, obwohl ihr Leben bedroht war. Man hat die Effektivität der Berliner Mauer mit Minen und Selbstschussanlagen gesehen. Die Frage ist: Wollen wir das? Welche Grenzen brauchen wir für uns? Das ist insofern relevant, als Grenzen unser Menschenbild ausdrücken. Das heißt, Abschreckung kann funktionieren, aber sie verändert, wer wir sind. Dann verkaufen wir unsere Seele. Das ist das Problem. Deshalb brauchen wir alternative Konzepte zu solchen Maßnahmen.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass es möglich wäre, Migrationspolitik ohne menschenunwürdiges Vorgehen zu gestalten, und ohne, dass es dabei zu Massenbewegungen kommt.
Genau. Wir brauchen eine Flüchtlingspolitik mit drei Säulen. Erstens: mehr Resettlement von Schutzbedürftigen. Zweitens: mehr Unterstützung für Flüchtlinge in Drittstaaten wie der Türkei. Das führte ja dazu, dass sich kaum noch Syrer in Boote setzten. Drittens: faire Verfahren für die, die kommen. Mit diesen Maßnahmen würden wir irreguläre Migration reduzieren. Aber wenn es uns das nicht wert ist, und wir wegen einigen Zehntausend Menschen Grundrechte aufgeben, dann zeigt das, wie wenig Krise es braucht, dass europäische Demokratien Grundrechte aufgeben. Und wie schnell wir einen Zustand der Rechtlosigkeit herstellen. Das hat aber nicht nur für Flüchtlinge Konsequenzen, sondern für jeden Bürger in unseren Staaten. Wenn ich so leicht das Recht auf Asyl abschaffen kann wie Orbán in Ungarn, dann kann ich auch andere Grundrechte abschaffen. Wenn der Europäische Gerichtshof das derart schnell ignoriert, dann kann er auch andere Rechte nicht mehr schützen.
Sehen Sie in der jetzigen EU-Kommission Schritte in die falsche Richtung, also eher Maßnahmen Richtung Abschottung und nicht Diplomatie?
Die Kommission hat die unmögliche Aufgabe, zwischen Staaten zu vermitteln, die die Flüchtlingskonvention noch nicht aufgeben wollen, und solchen, die auf Abschreckung durch schlechte Behandlung setzen. Ich persönlich halte einen Kompromiss zwischen diesen Positionen für ausgeschlossen.
In Ungarn von der Regierung Orbán im Rahmen einer Kampagne zum Staatsfeind stilisiert. „Das ist eine schockierende Entwicklung und v.a. ein Signal an die ungarische Zivilgesellschaft.“ G. Knaus
Sie sehen also gar keine europäische Lösung mehr?
Nein. Aber ich glaube, dass das gar nicht notwendig ist. Ein Beispiel: Nehmen wir an, eine Gruppe von vier Ländern – Deutschland, Frankreich, Niederlande und Österreich – wäre bereit, mit Transitländern wie Griechenland, Italien, Malta und Spanien im Rahmen eines schnellen, fairen Asylverfahrens zu kooperieren. Sie würden also jene Menschen mit positivem Bescheid aus diesen Ländern aufnehmen. Jene Menschen, die negative Bescheide erhalten, würden in diese Transitländer abgeschoben. Das wäre eine Regelung im Interesse dieser Ländergruppe mit Österreich. Es wäre auch im Interesse des Menschenrechtsschutzes und auch der Länder am Mittelmeer.
Können Sie nachvollziehen, dass sich Österreich derzeit außerhalb solcher solidarischer Initiativen positioniert?
Ich versuche immer, Lösungen vorzuschlagen, die eine Chance auf Umsetzung haben. Ein konkreter Vorschlag für Österreich: Bundeskanzler Kurz hat mehrmals gesagt, man solle denen helfen, die wirklich Schutz brauchen und nicht abhängig sind von Schleppern. Okay, ein Weg wäre Resettlement, also die Neuansiedlung von Schutzbedürftigen. Dazu zählen wohl auch die Menschen in Griechenland. In Kanada gibt es ein Programm mit Patenschaften und Neuansiedlungen, das auch Österreich entwickeln könnte: Bürger, Gemeinden, Kirchen und Verbände könnten jährlich eine bestimmte Anzahl von Menschen aufnehmen. In Kanada ist diese Zahl mit jährlich 0,05 Prozent der Bevölkerung festgelegt, das würde für Österreich ungefähr 4.000 Menschen bedeuten. Derzeit gibt es in Österreich zahlreiche leere Aufnahmeplätze, das wäre also gar kein Problem. Auch die Chance auf Integration wäre ungleich höher, weil die Menschen wissen, sie können bleiben. In Deutschland gibt es bereits so ein Pilotprojekt. Würde Österreich folgen, hätten wir einen mehrheitsfähigen Weg, langfristig die Empathie von Gemeinden und Bürgern mit der Kontrolle durch die Regierung zu verbinden und etwas zu realisieren, was in Kanada über die Parteigrenzen hinweg mittlerweile als normal angesehen wird. Jeder kennt jemand, der sich daran beteiligt hat. Man sollte also nicht auf die EU warten, sondern Polen einladen, mitzumachen und zugleich einen Europäischen Fonds einrichten, in den alle Länder einzahlen, der die nationalen Programme unterstützt.
Abschließend noch eine Frage zu Ihrer Person: Sie leisten Überzeugungsarbeit, sind aber in Ungarn, gemeinsam mit George Soros, als „Feind der Nation“ Ziel einer Kampagne geworden. Hat Sie das schockiert?
Es ist eine schockierende Entwicklung. Bislang gab es so eine Kampagne gegen George Soros oder Jean-Claude Juncker, damals immerhin der EU-Kommissionspräsident. Wenn ich jetzt in den ungarischen Medien zum Staatsfeind stilisiert werde, obwohl mich in Ungarn niemand kennt, dann ist das vor allem ein drohendes Signal an die ungarische Zivilgesellschaft. Ich kenne diese Rhetorik aus Ländern wie Russland, Aserbaidschan, auch aus der Türkei, das ist der letzte Schritt, um zivilgesellschaftliches Engagement zu kriminalisieren. Vor allem dann, wenn es Einfluss hätte. Ich lebe in Berlin, mich persönlich berührt das nicht so wie einen ungarischen Bürger. Aber derart mit einem Österreicher und einer deutschen Organisation zu verfahren, ist ein dramatisches Zeichen für den Stand der Debattenkultur in Ungarn. Es zeigt, dass Worte Konsequenzen haben. Orbán diffamiert NGOs seit Jahren als Söldner, als Verräter, als nationale Gefahr für die Sicherheit.
Der Migrationsforscher und gebürtige Salzburger Gerald Knaus hat 1999 den Think Tank European Stability Initiative (ESI) mit Sitz in Berlin mitbegründet. Er unterrichtete u.a. an der Harvard Kennedy School of Governance in Cambridge.
Sein aktuelles Buch „Welche Grenzen
brauchen wir? Zwischen Empathie
und Angst – Flucht, Migration und
die Zukunft von Asyl“ erschien 2020
beim Piper Verlag.
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