
Darf das Christkind in den Kindergarten?
Mit der kalten Jahreszeit beginnt auch eine Zeit vieler Feste, die ihren Ursprung im Christentum haben. Diese Feierlichkeiten haben ihren festen Platz im Kindergartenalltag. Ist das noch zeitgemäß? Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Sandra Schmidhofer
Mit bunten Klecksen dekorierte Laternen schmücken das Fensterbrett der Kindergartengruppe. Weiße Sterne kleben an den Fensterscheiben. Aufgeregt bereiten sich die Kinder auf das nächste Fest vor: Der Nikolaus kommt bald. Erst vor kurzem gab es den Laternenumzug, begleitet von freudigem Kindergesang. Seither erzählt mir meine Tochter die Geschichte vom heiligen Martin. Es sind Gespräche, die wir in unserem agnostizistischen Haushalt sonst nicht führen.
Das Bewahren österreichischer Traditionen ist fest im Wiener Bildungsplan verankert. Diese Traditionen sind stark mit dem Christentum verwoben. Die Langzeitstudie „Religion im Leben der Österreicher*innen 1970-2020“ des Religionssoziologen Paul Zulehner zeigt: Immer mehr Menschen wenden sich vom christlichen Glauben ab. 2010 lebten in Österreich 5,45 Millionen Katholik*innen, zehn Jahre später ist ihre Zahl auf 4,95 Millionen gesunken. Zugleich stieg in den vergangenen Jahren sowohl die Anzahl der Muslim*innen und auch die der Agnostiker*innen. Angesichts der anstehenden Feiertage steht die Frage im Raum: Wie sollen Bildungseinrichtungen auf diesen gesellschaftlichen Wandel reagieren? Darf das Christkind noch in den Kindergarten?
Das Bewahren österreichischer Traditionen ist fest im Wiener Bildungsplan verankert.
Ein „Fleckerlteppich“
Die 28-jährige Elementarpädagogin Monica sieht das gelassen. Für die Kinder sei die Zeit rund um Weihnachten etwas ganz besonderes, und auch die Eltern freuen sich über die Feste. Das sei auch in ihrer kulturell und religiös bunt durchmischten Kindergartengruppe der Fall. Wie mit Festen und dem Thema Diversität allgemein umgegangen wird, lässt sich nicht so einfach generalisieren. Das hängt stark vom Team im Kindergarten ab, hält die Pädagogin fest. Vor kurzem wollte sie eine Diskussion starten, wie Feste in Zukunft in ihrem Kindergarten gefeiert werden sollen. Sie wurde aber schnell gebremst. Sie selbst sei zwar offen für Veränderungen, sagt die Pädagogin, bei einigen ihrer Kolleg*innen sei das aber nicht der Fall. „Manchen ist es sehr wichtig, österreichische Traditionen zu bewahren. Aus dem Versuch, das zu besprechen, ist eine enorm emotionale Diskussion geworden.“ Monica zeigt sich darüber aber verständnisvoll: „Ich finde das gut. Wir Pädagoginnen sollen authentisch sein dürfen.“
Die Frage nach dem richtigen Umgang
Monica ist in einem streng katholischen Haushalt aufgewachsen. Es ist ihr wichtig, auch die Geschichte hinter den Festen zu erzählen. „Trotzdem möchte ich keinem Kind eine Religion überstülpen. Ich versuche, religiöse Inhalte mit Kindern aus einer philosophischen Perspektive zu betrachten“, betont die 28-Jährige, die seit zehn Jahren in Kindergärten der Stadt Wien arbeitet.
Dabei ist es ein schmaler Grat zwischen Tradition und Religion. Während in manchen elementaren Bildungseinrichtungen religiöse Begriffe strikt gemieden werden, wird in anderen aus Kinderbüchern über Josef und Maria vorgelesen. Was sich bisher kaum etabliert hat, ist das Feiern von Festen aus anderen kulturellen oder religiösen Kontexten. „Ich selber habe das noch nie erlebt“, sagt Monica. Auch Laura (Name geändert, Anm.) hat damit noch keine Erfahrung gemacht. Sie ist Elementarpädagogin im letzten Ausbildungsjahr.
Laura möchte anonym bleiben, denn die Frage nach dem richtigen Umgang mit kultureller und religiöser Vielfalt ist in ihrem Umfeld ein heikles Thema. Sie hat das Gefühl, dass man dem Diskurs bewusst aus dem Weg geht, wohl deshalb, weil es an einem Konsens fehlt.
Und auch von der MA 10 gibt es keine konkrete Antwort auf die Frage, ob die Praxis in den Kindergärten und die Ausbildung der Diversität gerecht wird, die unsere Gesellschaft heute aufweist. Manfred Kling, Mitarbeiter der Magistratsabteilung der Wiener Kindergärten betont, dass wiederkehrende Feste und Brauchtum Kindern ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. In städtischen Kindergärten werde „ein offenes und wertschätzendes Miteinander gestaltet, ohne konfessionelle Schwerpunkte zu setzen.“
Die Elementarpädagogin Laura glaubt, dass man in der Ausbildung die Frage nach dem richtigen Umgang mit kultureller und religiöser Vielfalt ausklammert. Es fehlt an einem Konsens.
Fehlende interkulturelle Kompetenzen
In der Regel gibt es an Wiener Ausbildungsstätten für Elementarpädagogik nur eine Lehrveranstaltung, die sich explizit mit dem Thema Diversität befasst. Diesen Umstand bedauert Laura: „Im Fach zu interkulturellen Kompetenzen haben wir über Freuds Psychoanalyse und über Möglichkeiten, den Islam auszulegen, gesprochen. Ich habe nicht gelernt, wie ich als Pädagogin mit Eltern kommuniziere, die schlecht Deutsch sprechen. Ich habe nicht gelernt, wie ich Missverständnisse aufgrund unterschiedlicher kultureller Hintergründe vermeide.“ Dieses Wissen fehlt ihr im Arbeitsalltag.
Lehrkräfte, die in diesem Bereich fundierte Kompetenzen aufweisen, kann Laura keine nennen. „Der Lehrkörper ist ja auch nicht divers“, sagt sie. Sinnvoll wäre ihrer Meinung nach, wenn Personen aus unterschiedlichen Communities in die Hochschulen kommen und Einblicke in ihre Lebensrealitäten geben, damit Pädagog*innen die Situation von Kindern mit Migrationshintergrund besser verstehen können.
Sowohl Laura als auch Monica bemühen sich um einen sensiblen Umgang mit Festen, die einem katholischen Kontext entstammen. „In der Weihnachtszeit sprechen wir vor allem über das Zusammenrücken“, betont Laura. Doch auch hier wünscht sie sich mehr Anleitung. Wie geht man damit um, wenn Kinder zuhause kein Weihnachten feiern? Wie reagiert man, wenn Eltern ihre Kinder an diesen Tagen nicht in den Kindergarten bringen möchten? „Es wird zu sehr auf Eigeninitiative gesetzt“, kritisiert die angehende Kindergartenpädagogin. Aufgrund schwieriger Arbeitsbedingungen und Personalmangels bleibe wenig Zeit und Energie für weitere Bemühungen. Dabei ist sich Laura sicher: Interkulturelle Kompetenzen sind zentral für einen qualitätsvollen Kindergartenalltag und müssen deswegen einen wichtigeren Stellenwert in der Ausbildung haben.
Elementarpädagogin Monica: „Ich möchte keinem Kind eine Religion überstülpen.“
Und nun?
Im bundesländerübergreifenden Bildungsrahmenplan für elementare Bildungseinrichtungen in Österreich wird Unterschiedlichkeit als „positiver Wert“ definiert. Transkulturelle Begegnungen können für Kinder demnach wichtige Lerngelegenheiten schaffen. Dem stimmt auch Monica zu: „Der Kindergarten ist die erste Konfrontation mit der Gesellschaft. Die Kinder erfahren, dass das, was sie von zuhause kennen, nicht das einzig Wahre ist.“ Auffallend ist, dass die Konfrontation mit „anderen Werten“ vor allem für Kinder mit Migrationshintergrund eingefordert wird. Können österreichische Kinder nicht auch von „nicht-österreichischen“ Traditionen profitieren?
Angesichts der immer größer werdenden Gruppe von nicht-religiösen Personen, stellt sich die Frage ob sämtliche religiösen Inhalte aus dem Kindergartenalltag verbannt werden sollen. Anstelle des Christkindes beschert uns der Weihnachtsmann die Geschenke. Oder, ganz radikal, Verwandte und Freund*innen beschenken sich zu Weihnachten gegenseitig. Zu Ostern gedenken wir des Osterhasen. Alleine bei dem Gedanken werden wohl einige die Köpfe schütteln. Monica bleibt optimistisch: „Ich denke, dass wir das in Wien schon gut hinbekommen. Und auch wenn manche Kolleginnen sehr auf österreichischen Traditionen beharren, gibt es doch jedes Jahr eine Entwicklung.“ In welche Richtung diese Entwicklungen konkret gehen, bleibt offen.
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