Das Herz in Händen
Die Journalistin und Podcasterin Nour Al-Ahmad berichtete über die Lage für Mädchen und Frauen in Syrien. Eine zunehmend bedrohliche Aufgabe in einem Land, das noch keinen Frieden gefunden hat, sowie in einer Branche, in der nach wie vor Männer das Sagen haben.
Interview und Foto: Sarah Kleiner.
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Seit 13 Jahren wütet in Syrien der Bürgerkrieg. Laut den Vereinten Nationen sind bis März des Jahres 2021 rund 350.000 Menschen ums Leben gekommen, über 40 Prozent davon waren Zivilist:innen. Die syrische Journalistin Nour Al-Ahmad lebte in der kurdischen selbstverwalteten Zone Rojava und hat sich in ihrem Land trotz der immensen Bedrohung für Frauenrechte eingesetzt. Im heurigen Frühjahr hat die 30-Jährige Syrien zum ersten Mal verlassen, um bei einer Aktion im österreichischen Parlament das Ende von Gewalt gegen Frauen zu fordern. Das MO-Magazin führte dort das Interview mit ihr. Mittlerweile ist Nour Al-Ahmad in Österreich geblieben und hat um Asyl angesucht.
Nour Al-Ahmad lebte in Rojava und setzte sich trotz Bedrohung für Frauenrechte ein.
MO-Magazin: Frau Al-Ahmad, wo stand die syrische Frauenbewegung vor Kriegsbeginn 2011 und wo steht sie heute?
Nour Al-Ahmad: Es gab vor der Jahrtausendwende Bemühungen um mehr Gleichberechtigung, aber von einer liberalen Frauenbewegung kann weder damals noch heute die Rede sein. Da ist vieles mehr Schein als Sein. Es werden noch immer Ehrenmorde an Frauen begangen, wenn sie durch ihre Handlungen, Äußerungen oder auch ihre Kleidung dem Ansehen ihrer männlichen Familienmitglieder schaden. Im autonom administrierten Nordosten haben wir eine demokratische Regierung, aber Frauen und Mädchen werden hier wie dort ermordet. Die Mörder tauchen für ein paar Wochen unter, aber dann kann man sie wieder in der Öffentlichkeit sehen. Sie sitzen in Restaurants, als wäre nichts passiert. Bis heute gibt es viele Frauen, die den ganzen Tag, teilweise über zwölf Stunden, arbeiten müssen und dafür einen Dollar am Tag verdienen. Damit kann man sich in Syrien nicht einmal ein Mittagessen kaufen. Heute ist es schlimmer als je zuvor.
2020 haben Sie begonnen, als Journalistin zu arbeiten. Welche Erfahrungen haben Sie in der männerdominierten Medienbranche gemacht?
Nachdem ich bei einem Radiosender als Moderatorin eines Morgenprogramms gearbeitet habe, bin ich zu Arta FM gewechselt, einer großen Medienorganisation mit Sitz in Amudah an der Grenze zur Türkei. Ich arbeitete danach als Freelancerin für die unterschiedlichsten Medienhäuser und würde nun auch gerne in Österreich für Medien arbeiten, wenn mein Asylverfahren abgeschlossen ist. Ich habe unter anderem als eine der ersten Frauen in Syrien einen medial ausgestrahlten Podcast gestaltet und etwa über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, die Bedeutung des Fahrradfahrens für Frauen oder die Auswirkungen der Klimakrise im Nordosten Syriens berichtet. Ich habe Programme entwickelt, die ich teilweise bis heute weiterführe. Es war am Anfang nicht leicht und nicht immer klar, ob ich weitermache. Als Frau wirst du einfach als Mensch zweiter Klasse betrachtet – von Kurden wie von Arabern. Ich wurde mehrmals sexuell belästigt. In einem Medienhaus hat ein Kollege plötzlich angefangen, meine Schultern zu massieren, als wir zu zweit im Büro waren. Ein großes Problem ist, dass es nicht viele gute Arbeitsplätze in Syrien gibt, vor allem, wenn man unabhängig sein will und nicht die „richtigen“ Kontakte hat. Das heißt, nach solchen Vorfällen zu kündigen, ist eine schwere Entscheidung.
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„ALS JOURNALISTIN TRÄGST DU DEIN HERZ IN HÄNDEN,
JEDERZEIT BEREIT, ES ABGEBEN ZU MÜSSEN“
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Hat die Arbeit als freie Journalistin Ihre Situation verbessert?
Ja, durchaus, weil ich mir aussuchen kann, für welches Medium ich arbeite, und meiner Tätigkeit alleine nachgehe. Aber wenn man als Freie neue mutige, kritische Dinge ausprobieren möchte, kann man sich schnell den Ärger der SDF (Anm. d. Red.: Syrischen Demokratischen Kräfte; sie sind ein Zusammenschluss kurdischer und arabischer Milizen, die sich 2015 unter Führung der USA für den Kampf gegen den IS verbündeten) oder des Assad-Regimes zuziehen. Dann wird in der Öffentlichkeit schlecht über einen geredet und Druck gemacht, dass man aufhört, kritisch zu berichten.
Es gibt aufgrund der extremen Armut und Not der Menschen viel Prostitution in Syrien. Frauen haben oft keine andere Wahl, als sich zu verkaufen oder ältere, reichere Männer zu heiraten. Ich wollte für einen Auftraggeber einen Bericht darüber schreiben. Als sie ihn gelesen haben, haben sie nur kurz angerufen, um mir in einem Satz mitzuteilen, dass ich gefeuert bin. Ich habe mich nie wirklich sicher gefühlt in Syrien. Ich hätte jederzeit wegen solcher Berichte verhaftet werden können.
Sind Sie selbst einmal ins Visier des Assad-Regimes geraten?
Ja. Es ist in Syrien üblich, dass über Personen der Öffentlichkeit sogenannte Reports publiziert werden, wo ihre Arbeit und ihr politischer Zugang thematisiert werden. Einmal wurde so ein Bericht über mich verfasst. Darin wurde behauptet, ich sei eine Gefahr für das Land. Die Assad-Regierung greift diese Berichte auf und lässt deswegen auch Menschen verhaften. Ein Sekretär des Regimes rief mich an und sagte: „Wir müssen uns mit Ihnen unterhalten, es dauert nur eine Stunde.“ Ich war sicher, sie wollten mich verhaften, und bin nicht hingegangen. Aber mein Bruder ist hingegangen, er lehrt an einer Schule in Syrien. Sie haben ihn über mich ausgefragt und es hat wirklich lange gedauert, um das Regime zu überzeugen, dass ich nicht mit dem Feind kooperiere oder sonst etwas Gefährdendes mache. Als Journalistin in Syrien trägst du dein Herz in deinen Händen, jederzeit bereit, es abgeben zu müssen.
Bei einer Veranstaltung im österreichischen Parlament im Februar dieses Jahres erzählte die Journalistin und Podcasterin Nour Al-Ahmad von der Ungleichbehandlung und der Gewalt an Frauen in Syrien.
Vor allem seit Herbst des Vorjahres wurden Luftangriffe in Form von Drohnen vom türkischen Militär in Syrien forciert. Diese schwächen besonders das Sicherheitsgefühl von Zivilist:innen, da die Gefahr ständig über einem schwebt. Im Zusammenhang mit Afghanistan nannte die Politikwissenschaftlerin Alex Edney-Browne selbst erwählte Isolation und das Vermeiden gesellschaftlicher Zusammenkünfte als Folge. Wie ist das gesellschaftliche Klima in Rojava, wenn Terror und Krieg ständig präsent sind?
So traurig das klingt, aber wir sind daran gewöhnt. Ich komme aus Geweran, einem Stadtteil von al-Hasaka, in dem ein IS-Gefängnis steht. Es ist nur ein paar Gehminuten vom Haus meiner Eltern entfernt und darin sind etwa 5.000 IS-Kämpfer inhaftiert. Aber der IS hat in der Vergangenheit mehrmals Gefängnisse angegriffen und Verbündete wieder befreit, diese Gefängnisse sind also eine permanente Bedrohung. Vor zwei Jahren sind zum Beispiel vom Gefängnis in Geweran hunderte Häftlinge entkommen, sie waren in der ganzen Nachbarschaft. Wir konnten nichts machen.
Was passiert mit den Frauen, die vom IS verschleppt werden?
Wir können es nicht mit Sicherheit sagen. Sie verschwinden einfach. Es kann sein, dass die SDF, das Regime oder der IS sie mitnimmt. Wahrscheinlich töten sie sie. Wenn die Terroristen meinen Presseausweis sehen, werden sie wahrscheinlich auch mich töten. Ich habe mich an den Gedanken gewöhnt. Ich habe keine Wahl.
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„WIR HÖREN VIEL ZU WENIG VON
DEN FRAUEN, DIE VOM IS BEDROHT WERDEN“
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Wie beurteilen Sie die Berichterstattung über den Krieg in Syrien selbst?
Wir hören viel zu wenig von den Frauen, die vom IS bedroht werden, die sich nicht trauen, die schwarze Burka abzulegen, weil sie Angst haben, der IS könnte jederzeit auftauchen. Mentale Gesundheit wäre ein sehr wichtiges Thema. Wenn ich über das nachdenke, was ich vorhin gesagt habe, das Wort „gewöhnt“ – es ist eigentlich das falsche Wort. Niemand kann sich wirklich an so ein Leben gewöhnen. Wir sind es – wenn überhaupt – gewöhnt, dass unsere psychische Gesundheit am Boden ist.
Wie kann Frieden in Syrien hergestellt werden – sehen Sie irgendeinen Lichtblick in der Zukunft?
Nur, wenn es gelingt, dass die Diebe, die Kämpfer, die Soldaten und Milizen das Land verlassen und uns in Ruhe leben lassen. Sie müssen gehen. Es gibt sonst keine Hoffnung. Jedes Land auf der Erde sollte die Türen für Menschen aus Syrien öffnen, die nicht für diesen Krieg verantwortlich sind, und ihnen ein Leben in Frieden ermöglichen.
Sarah Kleiner arbeitet als Journalistin in Wien. Sie leitet die Produktion des ORIGINAL-Magazins und ist als freie Autorin im Bereich Wissenschaft unter anderem für die Tageszeitung Der Standard tätig.
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