„Das ist beschämend“
Warum werden Familien mit hier geborenen Schulkindern abgeschoben, obwohl Kinderrechte im Verfassungsrang das verbieten? Zur Klärung der rechtlichen Praxis wurde eine Kindeswohl-Kommission einberufen und Irmgard Griss als Leiterin bestellt. Die ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofs im Gespräch über viel Ermessensspielraum und wenig objektive Kriterien, über den Umgang mit Muslim*innen und Korruption in Österreich. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Gunnar Landsgesell, Fotos: Karin Wasner
Sie haben 2014 die Hypo-Untersuchungskommission geleitet und kompromisslos die Ergebnisse präsentiert. Zurzeit gibt es täglich News über Postenschacher und Korruption. Nichts gelernt, wie korrupt ist Österreich?
Wenn man sich die Berichte von Transparency International ansieht, dann steht Österreich nicht gut da. Die Situation hatte sich in den Nuller-Jahren durch die ersten Verschärfungen der Korruptionsbestimmungen gebessert. Da war schon ein Bewusstsein entstanden, dass bestimmte Dinge nicht gehen. Das hat sich aber mittlerweile wieder verflüchtigt. Und es verbreitet sich die Einstellung: „Das machen ja alle“. Sobald sichtbar wird, dass selbst jene in höchsten Positionen es nicht so genau nehmen, dass es Grauzonen und eine Verhaberung gibt, desto stärker nimmt die Sensibilität dafür in der Bevölkerung ab.
Wie beurteilen Sie die Reaktion des Bundeskanzlers, gegen den nach Anzeige der NEOS nun auch Ermittlungen laufen? Mangelt es dem Kreis um Kurz an Respekt gegenüber den Institutionen der Demokratie und dem Parlament, wie die Opposition kritisiert?
Dass der Aufforderung des Verfassungsgerichtshofs, dem Untersuchungsausschuss weitere Unterlagen vorzulegen, weder vom Bundeskanzler noch vom Finanzminister rechtzeitig und umfassend entsprochen wurde, wirft ein bezeichnendes Licht auf ihre Einstellung - sowohl gegenüber dem Gerichtshof als auch gegenüber dem Parlament. Bezeichnend ist auch der Versuch, den Konflikt mit dem Untersuchungsausschuss auf die persönliche Ebene zu verschieben. Es sollte unter der Würde eines Spitzenpolitikers sein, sich als von aggressiven Fragen bedrängt und verunsichert darzustellen. Jedenfalls ist das eine Situation, die die ohnehin bestehende Polarisierung noch verstärkt und das Vertrauen in Politiker weiter schwächt.
Sie waren zwei Jahre für die NEOS Abgeordnete im Nationalrat. Wie war Ihre Erfahrung, konnten Sie etwas bewegen? Oder stimmt es, dass Österreich einen notorisch schwach ausgeprägten Parlamentarismus hat?
Ich hatte nicht das Gefühl, dass Abgeordnete der Oppositionsparteien viel bewegen können. Die Regierungsparteien bestimmen alles, auch in den Ausschüssen. Ich habe mehrmals versucht, Anträge einzubringen, die zum Teil genau das gefordert haben, was im Regierungsprogramm steht. Man konnte richtig darauf warten, bis sich jemand von den Regierungsparteien zu Wort meldet und den Antrag vertagt. Vertagung heißt, der Antrag wird schubladisiert. Dass man mit einem Vorschlag durchkommt, ist die Ausnahme. Das kann frustrierend sein.
Sie haben immer wieder versucht, auch emotional diskutierte Themen zu versachlichen, etwa im Fall des Kopftuchverbots für Volksschulkinder. Und Sie haben betont, dass es vielfach um Stimmungsmache gegen die muslimische Bevölkerungsgruppe geht. Ist nach vielen Jahren der Polemik ein wertschätzender Umgang überhaupt vorstellbar?
Ich glaube, man kann nur etwas erreichen, wenn es mehr Kontakte zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen gibt. Wenn die Menschen sehen, dass auch Muslime und Musliminnen ein gutes, normales Leben haben wollen, dass die Kinder eine Chance haben sollen. Dass die überwiegende Mehrheit weder fundamentalistisch noch extremistisch oder sonst etwas ist. Es gibt viele Kulturmuslime so wie es viele Kulturchristen gibt, wo das Opferfest so gefeiert wird wie Weihnachten. Aber ob religiös oder nicht, das kann ja keine Voraussetzung dafür sein, dass jemand als gleichwertig angenommen wird. Der Soziologe Harald Welzer schreibt, wie Religiosität Menschen helfen kann, ein erfülltes Leben zu haben. Weil sie damit eine Beziehung zum Transzendenten aufbauen und nicht nur im Konsumismus und in einem oberflächlichen Leben verharren. Welzer schreibt, er selbst sei leider religiös völlig unmusikalisch, aber ein Mensch, der das hat, könne eine Bereicherung sein. Viele Menschen inspiriert Religion, für andere da zu sein. Für Muslime ist die Wohltätigkeit eine der fünf Säulen der Religion. Daher ist es so unsinnig, alle als Pseudo-Jihadisten hinzustellen. Natürlich wissen die Politiker, die das tun, selbst ganz genau, dass es nicht stimmt, was sie behaupten, es geht einzig um Stimmenfang. Erinnern Sie sich an die Moscheenschließung im Sommer mit einer Pressekonferenz um 8 Uhr früh. Das ist einfach beschämend.
Was macht das mit den Jugendlichen, denen man signalisiert, ihr gehört nicht dazu?
Die entwickeln oft eine Neigung für fundamentalistische Ansichten. Denn diese ständige Ausgrenzungspolitik kann dazu führen, dass sie ihren Selbstwert durch die Übernahme extremer Ansichten stärken wollen. Für unsere Gesellschaft ist das eine ganz nachteilige Entwicklung, und ich sehe leider wenig Chancen, dass diese Politik beendet wird.
Nach der Abschiebung zweier Schülerinnen, eines Schülers und deren Familien, die auch medial diskutiert wurde, hat man auf Vorschlag der Grünen eine Kindeswohl-Kommission eingerichtet, die Sie leiten. Es geht darum, zu klären, ob die Kinderrechte in Asylverfahren hinreichend berücksichtigt werden. Gibt es schon eine Antwort?
Die Kinderrechte sind mehrfach abgesichert. Es gibt die UN-Kinderrechtskonvention, sie sind im europäischen Recht in der Grundrechte-Charta, und sie sind im Bundesverfassungsgesetz über die Rechte der Kinder verankert. Aber in der Praxis, im Vollzug, spürt man davon wenig. Der Schwerpunkt der Kommission sind die Asyl- und Fremdenrechtsverfahren, und da spielen die Kinder, wenn überhaupt, dann nur eine Nebenrolle. Im Regelfall werden die Kinder nicht angehört. Es ist die Ausnahme, wenn bei Prüfung des humanitären Bleiberechts berücksichtigt wird, ob ein Kind zum Beispiel schon sechs Jahre in Österreich ist, ob es hier in die Schule geht und hervorragend Deutsch spricht. Davon sollte aber die Beurteilung abhängen, ob eine Familie bleiben kann.
Was stört Sie konkret, wie die Beurteilung jetzt abläuft?
Dass es ganz stark davon abhängt, zu welchem Referenten man beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl oder zu welcher Richterin man am Bundesverwaltungsgericht kommt. Natürlich gibt es immer einen Ermessensspielraum, etwa darüber, wie man den Grad der Integration bewertet. Man muss auch bedenken, bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) handelt sich oft um Jugendliche, die einiges erlebt haben. Gut möglich, dass es da zwischen Erst- und Zweiteinvernahme Widersprüche gibt. Deshalb muss sichergestellt sein, dass diese Kinder und Jugendlichen vom ersten Tag an jemand haben, der sie unterstützt und berät. Solange sie in Traiskirchen sind, ist niemand da, der sich um sie kümmert. Die Obsorge wird erst von der Kinder- und Jugendhilfe übernommen, wenn sie in einem Quartier sind, wo sie länger bleiben. Das wurde schon oft kritisiert, ist aber nie geändert worden. Was wir also auf jeden Fall brauchen, ist eine Regelung, die sicherstellt, dass es vom ersten Tag an eine Obsorge für Kinder und Jugendliche gibt.
Welche Rolle spielt hier der Föderalismus?
Eine entscheidende. Für Traiskirchen ist die Bezirkshauptmannschaft Baden zuständig. Müsste die Kinder- und Jugendhilfe Baden die Obsorge für alle UMF übernehmen, dann wäre sie stark belastet. Das Land Niederösterreich will auch nicht für sämtliche Kosten aufkommen. Am Ende geht das aber auf Kosten dieser jungen Leute. Es braucht daher eine Regelung, die Verantwortung und Kosten angemessen verteilt. Derzeit fehlen einheitliche Standards für die Kinder- und Jugendhilfe, für die ja nunmehr die Länder zuständig sind. Wird ein unbegleiteter Minderjähriger untergebracht, ist der Tagessatz halb so hoch wie bei einem österreichischen Jugendlichen. In Vorarlberg zum Beispiel zahlt das Land dazu. Da braucht es eine einheitliche Regelung, der Bund müsste wohl einen Teil der Kosten übernehmen. Aber wie das Ganze jetzt läuft, ist es vor allem ein Abschieben von Verantwortung und ein Abschieben der damit verbundenen Kosten.
„Die Verfahren der abgeschobenen georgischen und armenischen Familie sind abgeschlossen. Auch wenn das Urteil falsch ist.“
Es werden weiterhin Familien mit Schulkindern, die zum Teil schon hier geboren wurden, abgeschoben. Hat die Missachtung der Kinderrechte keine rechtlichen Konsequenzen?
Im BVG Kinderrechte und auch im Artikel 24 der Grundrechtecharta steht, dass das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen ist. Das heißt konkret, die Berücksichtigung des Kindeswohls kann dazu führen, dass eine Familie bleiben darf, weil die Kinder schon jahrelang in Österreich sind, hier sozialisiert wurden, hier geboren sind. Jetzt ist es so, dass das Verhalten der Eltern den Kindern zugerechnet wird, und die Situation der Kinder in vielen Fällen überhaupt nicht berücksichtigt wird. Das passt nicht mit der verfassungsrechtlichen Absicherung der Kinderrechte zusammen. Tatsächlich hat der Verfassungsgerichtshof schon mehrmals aufgetragen, dass das Kindeswohl berücksichtigt werden muss. Das ist keine unverbindliche Regelung, an die man sich halten kann, wenn man will. Das ist Verfassungsrecht und steht über dem einfachen Gesetz. Und natürlich muss das BfA oder das Gericht das berücksichtigen.
Falls das wie im Fall der georgischen und armenischen Familien nicht passiert ist, hat man einfach Pech gehabt?
Dieses Verfahren ist abgeschlossen. Es soll bei einer der Familien noch ein Antrag auf humanitäres Bleiberecht offen sein. Aber das Asylverfahren ist auf jeden Fall zu Ende. Die Familien könnten nur über die Rot-Weiß-Rot-Karte versuchen, wieder nach Österreich zu kommen. Genau an diesen Fällen sieht man ja, dass die Kinderrechte nicht oder jedenfalls nicht ausreichend berücksichtigt werden. Aber wenn die Entscheidung rechtskräftig ist, ist das Verfahren abgeschlossen. Auch wenn das Urteil falsch ist.
Es gibt in Österreich die Problematik, dass hunderttausende Menschen, die hier geboren sind und hier leben, keine Staatsbürgerschaft erhalten und rechtlich wie Fremde im eigenen Land gelten. Das betrifft viele Kinder und Jugendliche. Österreich ist in Europa Schlusslicht. Ist das in der Kindeswohl-Kommission Thema?
Damit werden wir uns noch befassen. Das ist natürlich ein Relikt aus einer Zeit, in der Österreich kein Einwanderungsland war. Länder wie die USA knüpfen den Erwerb der Staatsbürgerschaft an die Geburt im Land, weil die Menschen dort ja auch heimisch werden sollten. In Österreich leitet sich die Staatsbürgerschaft immer noch von den Eltern ab. Aber Österreich ist heute ein Einwanderungsland.
Wann werden Sie die Ergebnisse der Kommission präsentieren und wie wollen Sie eigentlich verhindern, dass das Papier von der ÖVP schubladisiert wird?
Ich bin zuversichtlich, dass wir unseren Bericht noch vor dem Sommer vorlegen können. Wie wirksam er ist, wird ganz davon abhängen, wie sehr es uns gelingt, die Öffentlichkeit dafür zu interessieren. Wie sehr Medien unsere Empfehlungen verbreiten. Und wie sehr es uns gelingt, in der Bevölkerung ein gewisses Umdenken zu erreichen. Denn letztlich tut die Politik das, was in der Bevölkerung ankommt. Wir haben jedenfalls Fragenlisten an die Kinder- und Jugendhilfen in den Bundesländern und an das Innenministerium geschickt. Man wird sehen, was zurückkommt; im Bericht werden wir das alles offenlegen. Wenn der Bericht fertig ist, wird ihn die Kommission veröffentlichen. Es gibt keine Vorabgenehmigung durch das Ministerium. Der Bericht wird zeitgleich der Öffentlichkeit präsentiert und dem Ministerium übergeben.
Was hat Sie eigentlich bewogen, nach einer langen Karriere als Höchstrichterin und Politikerin die Kindeswohl-Kommission zu übernehmen? Gibt es für bestimmte, etwa humanitäre Fragen zu wenig Engagement in der Politik?
Das Funktionieren des Staates hängt ganz stark davon ab, dass Regeln eingehalten werden, auch wenn es unmittelbar keine Sanktion gibt. Dass wir ein Verantwortungsgefühl haben und keine reinen Egoisten sind. Dass wir uns daran orientieren, was für die Gemeinschaft gut ist. Sonst müsste man ja alles mit Gesetzen regeln, so kann kein Staat funktionieren. Gerade bei der Betreuung von Jugendlichen und von Familien, die auf der Flucht sind, sehen wir, wie unglaublich viele Menschen sich da engagieren, Patenschaften übernehmen und Unterstützung bieten. Müssen die Jugendlichen oder Familien Österreich trotz geradezu vorbildlicher Integration verlassen oder werden sie gar abgeschoben, so werden die Bemühungen all dieser helfenden und unterstützenden Menschen frustriert. Ehrenamtliches Engagement, Initiativen der Zivilgesellschaft werden dadurch entwertet. Das beschädigt die Grundlagen unseres Zusammenlebens. Das ist es, was mich so beschäftigt und umtreibt.
Irmgard Griss studierte Jus in Graz und absolvierte ein Post Graduate an der Harvard Law School. 1993 bis zu ihrer Pensionierung 2011 war sie Richterin am Obersten Gerichtshof (OGH), ab 2007 als dessen Präsidentin. Nach dem Skandal um die Hypo Alpe Adria Bank wurde sie 2014 zur Leiterin der Untersuchungskommission bestellt. Von 2017 bis 2019 war sie für die NEOS Abgeordnete des Nationalrats. Beim Präsidentschaftswahlkampf 2016 erzielte sie knapp 19 Prozent.
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