
Das neue Normal
Gegen Ende des Shutdowns dürfen wir nicht übersehen, dass die Krise der politischen Bildung weiter andauert. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Kommentar: Kathrin Stainer-Hämmerle
Konflikte sind das Wesen der Politik. Ohne sie gäbe es weder Entscheidungen noch Regeln. In Krisen verschärfen sich Konflikte zu Wertentscheidungen. Bei COVID-19 lautete das Dilemma Gesundheit oder persönliche Freiheit. Dabei darf es aus öffentlichem Interesse Einschränkungen eines Grundrechts zugunsten eines anderen geben. Allerdings müssen die Maßnahmen eine Gesetzesbasis haben sowie zweck- und verhältnismäßig sein. Zur notwendigen Akzeptanz braucht es wenigstens eine gefühlte Gerechtigkeit.
Bisher trafen Einschränkungen meist einzelne Bürger und noch öfter Nicht-Wahlberechtigte. COVID-19 erwischte uns kollektiv und unerwartet. In dieser Ausnahmesituation gelang es der Regierung durch rasches Handeln und zielorientierte Kommunikation allen Erleichterung zu verschaffen. Gab es doch offensichtlich jemanden an der Spitze des Staates, der weiß was zu tun ist. So akzeptierten wir auch, dass der Vorrang der Geschwindigkeit eine breite Diskussion verhindert. Dass statt Partizipation reine Effizienz wichtig schien.
Diese Priorisierung unserer Bundesregierung half das pandemische Desaster zu verhindern. Als Dauerzustand der Politik wäre sie allerdings eine demokratiepolitische Katastrophe. Das Parlament übergab in einer Sonntagssitzung die Macht an die Exekutive. Die Opposition übte zu lange den nationalen Schulterschluss wie im Kriegszustand. Die Regierung verzichtete auf Begutachtungsverfahren und knebelte jede differenzierte Diskussion durch Sammelgesetze. Stattdessen scharte sie ExpertInnen um sich, die angeblich die einzig richtigen Antworten kannten. Abweichende Meinungen wurden nicht gehört, rechtliche Bedenken vom Bundeskanzler lapidar beiseite gewischt.
Gegen Ende des Shutdowns dürfen wir nicht übersehen, dass die Krise der politischen Bildung weiter andauert. Bereits 2019 verfügten laut SORA 38 Prozent der ÖsterreicherInnen über autoritäre und illiberale Demokratievorstellungen. Weitere fünf Prozent galten gar als AutokratInnen. Nur 57 Prozent lehnten konsequent Einschränkungen bei der Unabhängigkeit von Gerichten und Medien oder bei Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie Oppositionsrechten ab.
Teilt die Krise Österreich nun noch stärker in (bei manchen auch nur gefühlte) Gewinner und Verlierer, so öffnen sich die Einfallstore für Populisten wieder rasch. Verschwörungstheorien sind weit in den Mittelstand vorgedrungen. Wer heute protestiert gegen Grundrechtsgefahren oder staatliche Überwachung, findet sich rasch in falscher Gesellschaft mit Impfgegnern und Antisemiten. Auch das verhindert Differenzierung.
Das neue Normal basiert auf alten Versäumnissen. Sollte der demokratiepolitische Alptraum nicht Wirklichkeit werden, benötigen wir ein Aufbauprogramm für politische Kompetenzen und liberalen Diskurs. Krisenresilienz und Populismusresistenz brauchen mehr Bewusstsein für die Mechanismen von Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative, aber auch Gemeinden, Ländern, Bund und EU sowie Regierung und Opposition, Politik und Medien.
ZUR PERSON I Kathrin Stainer-Hämmerle, Politik- und Rechtswissenschafterin an der FH Kärnten und Obfrau der Interessensgemeinschaft Politische Bildung (IGPB). www.igpb.at
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