Das sind keine Einzelfälle
Im Jahr 2019 hatte die ÖVP/FPÖ-Regierung ein neues Sozialhilfegesetz beschlossen. Noch im gleichen Jahr kippte der Verfassungsgerichtshof Kernpunkte davon. Ungeachtet dessen hat ein Großteil der Bundesländer die „Sozialhilfe NEU“ umgesetzt. Wir werfen einen Blick auf die Härten für die Betroffenen. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Valentine Auer
Ein Ehepaar, das seit 16 Jahren in Österreich lebt. Beide mittlerweile über 70 Jahre alt, beide engagieren sich ehrenamtlich in der niederösterreichischen Gemeinde, in der sie leben. Oder eine Familie mit fünf minderjährigen Kinder. Eines der Kinder leidet an Typ 1 Diabetes und ist seit 2010 in Therapie. Ihr Vater hat aufgrund der Pandemie seine Arbeit verloren. Oder ein alleinlebender 51-jähriger Mann. Er ist chronisch krank, Dialyse-Patient.
Betroffen sind Menschen mit Behinderungen, chronisch kranke Menschen, Familien, geflüchtete Menschen, Alleinerzieher*innen oder Menschen in teilbetreutem Wohnen.
All diese Menschen haben eines gemeinsam: Sie fallen durch das „soziale“ Netz. Und zwar komplett. Durch die Abschaffung der Mindestsicherung und die Verabschiedung des neuen Sozialhilfegesetzes unter der ÖVP/FPÖ-Regierung erhalten sie keine Sozialleistungen und sind nicht krankenversichert. Es sind reale Fälle, die die Ausbreitung von Not und Leid durch das neue Gesetz konkret machen: Die Familie muss derzeit von der Familienbeihilfe der fünf Kinder leben. Der 51-jährige Dialyse-Patient konnte seine Therapie nicht aussetzen, dadurch sind Schulden von 60.000 Euro angefallen. Das ältere Ehepaar muss sich mit Zuwendungen der Tochter sowie mit Lebensmittelspenden der Tafel über Wasser halten.
Keine Sozialleistungen. Keine Krankenversicherung.
Niederösterreich ist eines jener sechs Bundesländer, die das Sozialhilfegesetz bereits umgesetzt haben und in denen sich die Auswirkungen besonders drastisch zeigen. So gab es in der alten Mindestsicherung für all jene, die aus den Sozialleistungen herausfielen, zumindest Härtefallregelungen. Das gilt auch in anderen Bundesländer, die die neue Sozialhilfe umgesetzt haben. Nicht jedoch in Niederösterreich.
„Es sind keine Einzelfälle“, berichtet Barbara Bühler, Obfrau des niederösterreichischen Armutsnetzwerks, „Es gibt eine große Gruppe ohne Anspruch auf Sozialhilfe, weil sie den falschen Aufenthaltstitel haben – zum Beispiel eine Rot-Weiß-Rot-Karte, humanitären Aufenthalt oder subsidiären Schutz. Allein aus einer Region in Niederösterreich wissen wir von 170 Betroffenen.“ Betroffene, die nicht arbeiten können, weil sie chronisch krank sind oder im Zuge der Pandemie arbeitslos wurden. Betroffene, die dennoch keine finanzielle Unterstützung, keine Krankenversicherung erhalten.
Auch Laura Allinger, Grundlagenreferentin für Sozialpolitik bei der Volkshilfe Österreich kennt solche Fälle. „Es fühlt sich an als wolle man meine Familie wegschmeißen“, zitiert sie eine Frau mit humanitären Bleiberecht. Nicht Armut, sondern Armutsbetroffene werden durch das neue Gesetz bekämpft, sind sich Expert*innen einig.
So geht die Volkshilfe Österreich davon aus, dass neben der Zahl der Armutsbetroffenen auch die Zahl der Wohnungslosen zunehmen wird, sagt Allinger: „Was sollen wir den Betroffenen sagen, wenn sie kein Recht mehr auf Sozialhilfe haben? Wir müssen zuschauen, wie diese Menschen in die Armut gedrängt oder wohnungslos werden. Das ist nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern für den Zusammenhang unserer Gesellschaft wirklich drastisch“.
Laura Alinger, Volkshilfe: „Müssen zuschauen, wie Menschen in Armut gedrängt werden.“
Kein Geld fürs Wohnen. Kein Geld fürs Leben.
Der Grund, wieso mehr und mehr Menschen in die Armut oder in die Wohnungslosigkeit schlittern: Die neue Sozialhilfe basiert auf Obergrenzen und nicht – wie die alte Mindestsicherung – auf Mindestrichtsätzen. Diese Obergrenzen decken weder den realen Bedarf an Wohnen noch am Leben, wie Statistiken zeigen: In Österreich liegt die Armutsgefährdungsschwelle derzeit bei 1.328 Euro im Monat für eine alleinstehende Person. Doch die Sozialhilfe in Niederösterreich liegt deutlich darunter, bei 949,46 Euro. Kann eine Person nachweisen, dass sie einen Wohnbedarf hat, erhält sie zusätzlich für das Wohnen 379,78 Euro. Die durchschnittliche Bruttomiete beträgt in Niederösterreich jedoch 532 Euro.
„Die Wohnbeihilfe deckt bei kaum jemanden die realen Wohnkosten. Dadurch müssen die Betroffenen aus dem ebenfalls zu niedrigen Anteil, der für das Leben gedacht ist, die restliche Miete zahlen und bei Lebensmittel, Bekleidung und sonstigen alltäglichen Besorgungen noch mehr sparen“, fasst Barbara Bühler die Problematik zusammen. Hinzu kommt, dass das Geld für den Wohnbedarf als Sachleistung gewährt wird. Die Betroffenen sind dadurch gezwungen, der auszahlenden Behörde die Kontaktdaten der Vermieter*innen zu geben, damit das Geld direkt überwiesen werden kann. „Das kommt einem Zwangs-Outing gleich und ist für viele Betroffene massivst beschämend“, so Bühler. Die Differenz zur realen Miete, müssen die Betroffenen selbst überweisen.
Ein bürokratischer Mehraufwand und ein Beispiel dafür, dass die Sozialhilfe unnötig kompliziert ist. Auch das spiegelt sich in Zahlen wider: Die Fachabteilung des Landes Kärnten schätzt, dass die Leistungen für Sozialhilfe-Empfänger*innen um etwa 360.000 Euro sinken wird, während es durch den erhöhten Verwaltungsaufwand zu Personalmehrkosten von 1,06 Millionen Euro kommt.
Die lange Liste der Leidtragenden
Die sinkenden Leistungen betreffen unterschiedliche Personengruppen. Zahlreiche Bestimmungen erschweren das Leben vieler Betroffener zusätzlich: „Leidtragende sind Menschen mit Behinderungen, chronisch kranke Menschen, Familien, geflüchtete Menschen, Alleinerzieher*innen oder Menschen in teilbetreutem Wohnen“, fasst Laura Allinger die lange Liste zusammen.
So können volljährige Menschen mit Behinderungen gezwungen werden, ihre Eltern auf finanziellen Unterhalt zu verklagen. Weigern sie sich, werden ihre Sozialhilfe-Leistungen reduziert. Notunterkünfte für Frauen werden nun als Wohngemeinschaft eingestuft, auch das führt zu gekürzten Leistungen. Die Richtsätze für Kinder sind nach wie vor zu gering, vor allem Familien mit mehreren Kindern sind von undurchsichtig gestaffelten Richtsätzen betroffen.
Und selbst eigentlich begrüßenswerte Ansätze, stellen sich dann doch als problematisch heraus: Alleinerzieherinnen sollten erhöhte Richtsätze erhalten. Allerdings nur, wenn alle Kinder im Haushalt unter 18 sind. Es ist ein Beispiel dafür, wie sich bestehende Missstände relativ einfach lösen lassen würden. In diesem Fall durch eine andere Definition von „alleinerziehend“.
Barbara Bühler vom Armutsnetzwerk: kennt allein aus einer Region in NÖ 170 Betroffene.
Die Sozialhilfe reparieren
Genau darum geht es in einem ersten Schritt: Die genannten Punkte müssen repariert werden, um die größten Probleme zu entschärfen, erklärt Bühler. Doch eigentlich braucht es eine grundsätzliche Reform, in der das Wissen von Expert*innen miteinbezogen wird und Leistungen auf empirischen Daten basieren. Und letztlich sind es gesellschaftspolitische Fragen, die bei der Gestaltung der Sozialhilfe berücksichtigt werden müssen, so Bühler: „Welches Leid wollen wir zulassen? Ist es politisch gewollt, dass es Menschen ohne Krankenversicherung, Menschen ohne jegliche finanzielle Möglichkeit gibt? Wollen wir diese Formen der Not zulassen?“
Wie auch viele andere Menschen, verneint Bühler letztere Frage. Es sind Menschen aus der Zivilgesellschaft, aus dem nahen Umfeld der Betroffenen, die versuchen der Not entgegenzuwirken. Das zeigen auch die zu Beginn aufgezählten Fälle: Für das ältere Ehepaar setzt sich die Gemeinde ein. So wird überlegt, ob der über 70-jährige Mann in der Gemeinde angestellt werden kann, um den Härtefall abzuwenden. Und der Dialyse-Patient kann nach der Intervention einer Sozialberatungsstelle ein wenig aufatmen – die angehäuften Kosten von 60.000 Euro werden von der Krankenkasse rückwirkend übernommen. Eine Existenzgrundlage fehlt ihm – wie so vielen anderen – allerdings nach wie vor. Und das Ziel der aktuellen Bundesregierung, nämlich den Anteil von armutsgefährdeten Menschen zu halbieren, bleibt so unerreichbar.
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