Die Kraft der Würde
SONDERECKE. Von der inneren Freiheit zum Menschenrechtsstaat in 5 Gedankensplittern. | Um die Ecke gedacht mit Philipp Sonderegger, lllustration: Petja Dimitrova
eine erste Begegnung mit der Kraft der Würde erfolgte in Gestalt einer braunstichigen Fotografie. Sie zeigte Sitting Bull, den Anführer der Lakota Sioux. In der örtlichen Kirche, die ich mit meinen Eltern damals jeden Sonntag besuchte, war von jenem Geist der Selbst- und Nächstenliebe wenig merkbar, der verfolgte Christen der Urgemeinden angeblich so vieles ertragen ließ. Und so war es der bohrende Blick des Indianerhäuptlings, der mich den Kopf hoch halten ließ, im Angesicht des Unrechts, das einem 10-jährigen Knaben so widerfährt.
Auf Ö1 war kürzlich folgende Anekdote zu hören. Für Aufnahmen zu einem James Bond Film in Marokko wurden Berber als Statisten engagiert. Als um 10 Uhr der Dreh beginnen sollte, war allerdings keiner gekommen. Der Set stand still. Zu Mittag tauchten die Silhouetten von Kamelen am Horizont auf, es dauerte noch Stunden, bis die Wüstenbewohner am Drehort eintrafen. Die Aufnahmeleiterin ließ die Berber zur Rede zu stellen. Der Dolmetscher überbrachte die Antwort: „Berbers are never late“.
In der Menschenrechtsbewegung steht die Würde des Menschen für die Abwehr von Verletzungen. Dagegen wirbt Gerald Hüther für ihre Entdeckung als Ressource sozialen Wandels. In unserer Anekdote verschiebt sich so der Fokus von der vergeudeten Zeit der Filmcrew zum Aufbegehren der Berber gegen Zeitdruck und Erwerbslast. Die innere Freiheit selbst zu bestimmen, welcher Mensch ich sein will und die Verantwortung für meine Entfaltung anzunehmen, birgt eine unbeugsame Kraft, sagt Hüther. Er setzt auf die steigende Zahl von Menschen, die ihr Leben und ihr Zusammenleben im Bewusstsein ihrer Würde als Menschen gestalten.
Freilich gelangen wir nur zu universellen Menschenrechten, wenn dabei auch die innere Freiheit anderer Menschen geachtet bleibt. Im Anschluss an die Goldene Regel „Was du nicht willst, das man dir tut,…“ begründet Seyla Benhabib ihren Ansatz. Wenn wir die Fähigkeit anderer Menschen anerkennen, ihre innere Freiheit auch zu vermitteln, dann lassen sich individuelle Ansprüche in den Institutionen demokratischer Öffentlichkeit, Politik und Justiz zu mehr oder weniger allgemein verbindlichen Regeln aushandeln. Doch das birgt die Zumutung ständigen Hinterfragens und endloser Erklärung.
Noch weiter geht Benjamin Gregg. Er skizziert einen Menschenrechtsstaat, dem weltweit alle Menschen beitreten können, die Benhabibs Grundsatz folgen. Wenn sie also die prinzipielle Fähigkeit von Menschen bejahen, allgemeine Rechtsansprüche mit Argumenten auszuhandeln. Dieser transnationale Staat bringt Nationalstaaten laut Gregg in Zugzwang, konkreten Rechtsansprüche wie jene auf Bildung, Wasser oder Leben umzusetzen.
Seyla Benhabib: Kosmopolitismus ohne Illusion, 2016
Gerald Hüther: Würde, 2018
Benjamin Gregg: The Human Rights State, 2016.
Philipp Sonderegger ist Menschenrechtler, lebt in Wien und bloggt auf phsblog.at
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