
Die EU wird nicht auseinanderbrechen
Vom 23. bis 26. Mai wird das Europäische Parlament gewählt. Wie sozial ist die Europäische Union? Und wie kann Ungleichheit nivelliert werden? Die stv. Leiterin des WIFO Margit Schratzenstaller und der langjährige IHS-Leiter Bernhard Felderer im Gespräch. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Gunnar Landsgesell, Alexander Pollak, Fotos: Karin Wasner.
Unter dem Eindruck der Finanzkrise sagte EZB-Präsident Mario Draghi 2012 in einem Interview mit dem Wall Street Journal: „Das europäische Sozialmodell ist Vergangenheit“. Teilen Sie den damaligen Befund?
Bernhard Felderer: Das kann er nicht so gemeint haben, wie es klingt, es geht mehr um die Dimensionen. Die zentraleuropäischen Staaten haben die höchsten Sozialquoten der Welt. Falls das finanziert werden kann, dann ist es auch möglich, solche Sozialleistungen zu haben. Diese Leistungen sind teils durch Beiträge finanziert und teils durch Einkommens- und andere Steuern. So wie es jetzt läuft, sind die Kosten von der Wirtschaft noch zu tragen, also muss man sich im Moment nicht von diesem Modell verabschieden. Man muss sich aber überlegen, wie wir mit dem stärker werdenden Wettbewerb umgehen. Wir werden bedrängt aus dem Osten, China ist sehr aggressiv und mit guten Produkten unterwegs. Heute belächelt China niemand mehr. Wir brauchen Fortschritte bei der Produktivität, der Zuwachs bei der Arbeitsproduktivität ist in Europa in den letzten 40 Jahren gesunken. Wir verzeichnen in Europa einen Arbeitsproduktivitätsfortschritt in den vergangenen Jahren von einem Prozent oder darunter, in Italien ist er Null. Damit wird ein Sozialmodell, wie wir es jetzt haben, in dieser Dimension nicht finanzierbar sein.
Margit Schratzenstaller: Es wäre auch keine gute Idee, sich von diesem Sozialmodell zu verabschieden. Die sozialen Aspekte sind wichtiger denn je, man sieht das auch bei den Diskussionen auf internationaler Ebene. Bei allen supranationalen Organisationen wird anerkannt, dass man das Soziale zu lange vernachlässigt hat. EU-Kommission, OECD, IWF sprechen von sozial inklusivem Wachstum und weisen darauf hin, dass Produktivitätsgewinne ausgewogen verteilt werden sollen. Aus ökonomischen Gründen, aber auch, weil es politisch ein Problem ist, wenn man die soziale Seite zu sehr vernachlässigt. Man sieht das an Absetzbewegungen wie dem Brexit. Dass wir in Europa bei Einkommensverteilung und regionaler Verteilung ein Problem haben, ist offensichtlich. Die Erwartung, dass sich die Peripherie an Kerneuropa angleicht, hat sich so nicht erfüllt. Es gibt eine interessante aktuelle Diskussion unter dem Titel Geography of Discontent, die thematisiert, dass es politisch und sozial problematisch ist, wenn Regionen abgehängt sind oder sich so fühlen. Diese Erkenntnis dringt auch immer stärker zu den Entscheidungsträgern durch. Auch wenn die EU keine explizite sozialpolitische Kompetenz hat: Hebel hat sie schon mehrere. Über das EU-Budget, Sozialfonds, Kohäsionsfonds, auch über steuerpolitische Empfehlungen.
Felderer: Die Vernachlässigung von Sozialem betrifft die EU, nicht die Mitgliedsstaaten. In allen Mitgliedsstaaten sind die Sozialausgaben deutlich gestiegen. Die EU hat in den Römischen Verträgen keine Kompetenz bekommen, hat sich aber Kompetenz genommen: etwa im Bereich der Koordinierung der Sozialversicherungen, die man, wenn man in einem anderen Land arbeitet, mitnehmen kann. Es gibt die Entsenderichtlinie und die Dienstleistungsrichtlinie, die großen wirtschafts- und sozialpolitischen Einfluss haben. Ich glaube, dass die EU sich weitere Kompetenzen nehmen wird. Aber wie weit das geht, wird diskutiert. Eine einheitliche Regelung für den gesamten EU-Raum ist problematisch, wenn man bedenkt, wie groß die Unterschiede beim Pro-Kopf-Einkommen sind und auch bei den Sozialausgaben. Die Portugiesen geben 12 Prozent aus, Deutschland rund 30 Prozent des Budgets. Ein Riesenunterschied, zudem liegt das Pro-Kopf-Einkommen Deutschlands viermal höher als das der Portugiesen. Man muss sich vorstellen um wie viel mehr Geld in Deutschland für Soziales pro Kopf ausgegeben wird.
Sollte man diese Unterschiede in einem gemeinsamen Wirtschaftraum so bestehen lassen?
Felderer: Diese Unterschiede sind sicher nicht optimal. Der Lohn in Portugal, um beim Beispiel zu bleiben, wird ja dort ebenso von der Produktivität determiniert wie auch in Deutschland. Will man das ändern, verschiebt man das Verhältnis zwischen Produktivität und den Kosten des Arbeitgebers. Ich glaube, man wird deshalb nicht sehr weit gehen können. Weicht man vom Grundsatz ab, dass jede Lohnerhöhung von einem Zuwachs der Arbeitsproduktivität gedeckt sein muss, dann wird es schwierig. Die Kosten für den Arbeitgeber durch neue Sozialbeiträge zu sehr zu belasten, wird sich in Grenzen halten müssen, sonst wird es Arbeitslosigkeit geben. Da sollte man sich bei Experimenten nicht die Finger verbrennen. Aber die EU hat ja mit der Entsenderichtlinie schon unheimlich stark eingegriffen. Dass ein polnisches Unternehmen in Österreich Löhne auf österreichischem Niveau zahlen muss, hat man sich in Polen wohl nicht so vorgestellt. Das steht auch so nicht in den Römischen Verträgen. Das wirtschaftliche Gesamtergebnis von Polen und Österreich ist nicht gewachsen, weil die Realokation (Neuverteilung, Anm.) von Arbeitskräften verhindert wurde. Die wahrscheinlich entstandene Arbeitslosigkeit in Österreich hätte sich in Grenzen gehalten und wäre bald wieder verschwunden. Die Gewerkschaften haben argumentiert, dass so Arbeitslosigkeit bei uns verhindert wird. Ich denke, dass die Anpassung relativ rasch gekommen wäre.
Schratzenstaller: Ich denke, dass die EU die Hebel, die sie hat – einer davon ist das EUBudget – schon gezielter einsetzen kann, als sie es bisher tut, um solche Produktivitätsunterschiede auszugleichen. Wenn man sich die Kohäsions- und auch die Agrarpolitik ansieht, die zwei größten Posten, sind sie derzeit nur begrenzt geeignet, regionale Unterschiede zu verringern, sondern verstärken diese vielfach sogar noch. Ein Window of Opportunity ist das nächste EU-Budget, das derzeitige gilt bis 2020, um diese Instrumente etwa dafür einzusetzen, die ärmeren Regionen gezielter zu fördern. Und nicht nur mit einem nachträglichen Ausgleich soziale Probleme zu minimieren, sondern um die Produktivität zu stärken.
Felderer: Wie soll das gehen, durch Mittel in der EU schwächeren Regionen zu helfen? Durch Investitionsförderungen?
Schratzenstaller: Zum einen durch das Erasmus- Programm, aber auch durch den Sozialfonds, mit dem schon jetzt eine Reihe von Bildungsmaßnahmen gefördert werden, sowie die Regionalpolitik.
Felderer: Aber da wird ja das Budget schon ziemlich ausgereizt, da würden wir zusätzliche EU-Steuern brauchen.
Schratzenstaller: Das ist eine andere Diskussion, ob man ein höheres Budget braucht. Ich denke, dass man mit dem bestehenden finanziellen Rahmen mehr und fokussierter agieren kann. Derzeit geht ein großer Teil der Agrarförderungen eben nicht an die ärmeren Länder. Ein erheblicher Teil der Kohäsionsmittel geht an relativ reiche Regionen.
Felderer: Das stimmt, auch dort gehen die Mittel an größere Landwirtschaften. Jede diesbezügliche Änderung wird zu einem unglaublichen Politikum, ich sehe schon die französischen Bauern mit Traktoren durch Paris fahren.
Könnte die Finanztransaktionssteuer hilfreich sein, um neue Mittel für die Umverteilung zu gewinnen?
Schratzenstaller: Ja, vorstellbar sind verschiedene Maßnahmen. Auch, einen Teil der nationalen Beiträge, die derzeit den Großteil der EU-Ausgaben finanzieren, durch Einnahmen aus einer Transaktionssteuer zu finanzieren. Die Idee dazu ist nicht neu, die EU-Kommission selbst hat diese Idee vor mehreren Jahren explizit lanciert, und wir haben sie in unserem EUProjekt „FairTax“ auch aufgenommen. Aber politisch ist das schwierig durchzubringen.
Felderer: Ich halte weniger davon, weil nie alle Länder teilnehmen werden. Dann entsteht ein Nachteil für manche Länder. Das hat man bei der Börsensteuer gesehen, die in Österreich Verheerendes angerichtet hat. Der Wiener Börsenplatz ist praktisch tot, er war noch vor zehn Jahren sehr lebendig. Es ist gut, wenn man Mittel für einen sozialpolitischen Zweck auftreiben kann, man muss sich aber fragen, was dort passiert, wo man sie hernimmt.
Schratzenstaller: Ich würde vorschlagen, das nicht als zusätzliche, sondern als alternative Finanzierung zu diskutieren. Wenn man die Finanztransaktionssteuer so ausgestaltet, wie die ursprüngliche Idee war – sehr breite Basis, sehr geringe Sätze – dann kann der Nutzen daraus, anderen Ländern Spielräume zu schaffen, im Gegenzug die nationalen Beiträge und damit andere Steuern zu senken, vor allem die hohen Abgaben auf die Arbeit – höher sein, als der Schaden, den man anrichtet.
Felderer: So viel wird da nicht rauskommen. Vor allem, wenn man die Höhe sehr gering hält, ist der Schaden im Verhältnis weit grö-ßer. In der Zeit, in der Wolfgang Schüssel Bundeskanzler war, gab es starke Bemühungen, die Finanztransaktionssteuer einzuführen. Er selbst war dafür, aber in seinem Umfeld gab es viel Skepsis. Also Ihrem Argument, dass man bestehende Mittel etwa beim Agrarfonds stärker auf ärmere Länder konzentriert, kann ich mehr abgewinnen. Einer Transaktionssteuer nicht, es gibt so viele Steuern, man kann jeden Tag neue erfinden. Wir hatten in den letzten 20 Jahren Diskussionen über Hunderte Steuern, Gott sei Dank sind nur wenige gekommen.
Ihr Argument, Herr Felderer, ist, dass nicht alle EU-Mitgliedstaaten die Transaktionssteuer mitmachen würden. Was, wenn doch?
Felderer: Dann könnte man noch eher darüber reden. Aber es hat ja auch die Forderung nach Vermögenssteuern gegeben, obwohl es in ganz Europa keine mehr gibt. Bis auf die Schweiz, wo sie ganz gering ist und verschämt Ergänzungssteuer heißt. Der letzte Staat, der die Vermögenssteuer abgeschafft hat, ist Frankreich gewesen, das war vor einem Jahr. Das Problem dabei ist, dass man Vermögen datenmäßig kaum erfassen kann, ein unglaublicher Aufwand, der bis zur Schätzung von Bildern reicht. Die Vermögenssteuer gleicht einer Einladung zum Betrug des Staates. Selbst Schweden hat sich davon verabschiedet, es gibt dort nicht einmal mehr eine Statistik über Vermögen. Dass Vermögen sehr ungleich verteilt sind, ist unbestritten, im Fall eines Industriebesitzers ist das einfach. Aber die Schätzung des Vermögens eines Haushaltes hat sich überholt. Schon eher ein Kandidat ist die Erbschaftssteuer, da muss beim Notar eine Erklärung abgegeben werden. Da bin ich aber auch dagegen, weil vorher andere Dinge erledigt werden müssen. Wir haben jetzt schon eine der höchsten Steuerquoten der Welt. Wir finanzieren sehr viel durch den Staat, deshalb glaube ich, dass viele sozialpolitische Anliegen durch private Initiative gelöst werden sollten. Dafür kann es dann Subventionen geben, in Deutschland sind Kindergärten mehrheitlich private Initiativen. Bei uns regen sich die Leute im zehnten Bezirk auf, dass die Stadt versagt hat, weil ein Kindergarten fehlt. Warum muss alles der Staat tun?
Stimmen Sie zu, Frau Schratzenstaller?
Schratzenstaller: Ich glaube, wir müssen zwei Diskussionen trennen. Die eine, welche Aufgaben der Staat übernehmen soll und welche Ausgaben damit verbunden sind. Darüber muss man reden, auch über Ineffizienzen in Österreich, vom Föderalismus bis zum Fördersystem. Da gab es schon viele Vorschläge zur Beseitigung dieser Ineffizienzen. Wenn man sich dann darauf geeinigt hat, welche Aufgaben der Staat übernimmt, muss man darüber diskutieren, woher er das Geld nimmt. Ich sehe auch, dass die Abgabenquote in Österreich hoch ist. Grundsätzlich soll man auch darüber nachdenken, wie man eine Senkung durch die Reduktion überflüssiger Aufgaben und eine effizientere Aufgabenerfüllung gegenfinanzieren kann. Aber unabhängig von der Höhe der Gesamtabgaben stellt sich die Frage, aus welchen Quellen sich der Staat finanziert. Wir haben in Österreich, aber auch in anderen europäischen Ländern ein fundamentales Ungleichgewicht, dass nämlich die Abgaben auf Arbeit sehr hoch sind. Umgekehrt hätten wir Spielraum nach oben, was die Umweltsteuer betrifft, und auch bei vermögensbezogenen Steuern wie der Grundsteuer oder der Erbschaftssteuer gäbe es Möglichkeiten für einen Umbau des Abgabensystems.
Zurück zur EU-Ebene, die Kommission hat vor Jahren schon in einem Bericht davor gewarnt, dass die EU auseinanderdriftet, wenn die Ungleichheit zwischen den Mitgliedern so bestehen bleibt. Wie sind wir heute unterwegs?
Felderer: Also die EU wird nicht auseinanderbrechen. Selbst Länder wie Ungarn, die jetzt besonders laut trommeln, haben ein vitales Interesse, in der EU zu bleiben. Nicht nur als Nettoempfänger, sondern vor allem, weil sie vom Freihandel abgeschnitten wären und Direktinvestitionen schwieriger würden. Dann wären sie über Nacht tot. Die Druckmöglichkeiten der Union sind durch die Wirtschaftsverflechtung gewaltig. Aber wie auch Hans Werner Sinn unlängst schrieb, der Traum von einem europäischen Bundesstaat ist tatsächlich in die Ferne gerückt. Durch den aufkommenden Nationalismus ist es so, dass wir eher dem De-Gaulle-Modell vom Zusammenschluss von Nationalstaaten folgen, die stärker kooperieren.
Ist der Steuerwettbewerb ein Hindernis für soziale Integration?
Felderer: Den Steuerwettbewerb gibt es nicht in jedem Bereich, am deutlichsten ist er in der Unternehmensbesteuerung. Vor einigen Jahren wurde der Körperschaftssteuersatz (Einkommenssteuer der Unternehmen, Anm.) von 34 auf 25 Prozent gesenkt. Damit liegen wir heute im europäischen Vergleich im oberen Bereich. Bei der Kapitalertragssteuer wurde der Satz von 25 auf 27,5 Prozent erhöht, damit zählt er EUweit wieder zu den höchsten.
Schratzenstaller: Der Unternehmenssteuerwettbewerb ist mit einigen Problemen verbunden. Wenn man die Unternehmen nicht mehr effektiv besteuern kann, dann müssen die öffentlichen Aufgaben aus anderen Quellen finanzieren. Es gibt Studien, die zeigen, dass die hohe Arbeitsbesteuerung auch damit zu tun hat, dass man die mobilen Bemessungsgrundlagen immer weniger besteuern kann. Für Österreich ist das keine einfache Situation, sich dem Unterbietungswettbewerb der Nachbarländer zu entziehen, man denke etwa an Ungarn, das seinen Unternehmenssteuersatz jüngst auf 9 Prozent gesenkt hat. Deshalb habe ich durchaus Sympathien für die Diskussion über Mindeststeuersätze. Auch, weil es politisch dafür Gründe gibt. Wenn die Bevölkerung das Gefühl hat, dass die eigene Steuerbelastung relativ hoch ist, während Unternehmen nicht mehr ihren „fair share“ beitragen, leidet die Steuermoral. Das wird auch auf der supranationalen Ebene diskutiert. Das Problem: In der EU bekommt man eine Steuerharmonisierung nur mit Einstimmigkeit durch. Wenn man solche Maßnahmen aber isoliert diskutiert, wird man sie nie durchbringen. Wir müssen daher mehr über Paketlösungen sprechen. Die osteuropäischen Länder haben sicher kein großes Interesse an Mindeststeuersätzen, dafür aber an einer stärkeren Ausrichtung der Kohäsionsfonds in ihre Richtung. Wir sollten die Chance nützen, solche Harmonisierungsansätze in größeren Paketen zu diskutieren.
Zur Person | Margit Schratzenstaller
Margit Schratzenstaller, Referentin für Öffentliche Finanzen und stv. Leiterin am WIFO, Expertin im Fiskalrat, Lehrbeauftragte an der Universität Wien, Partnerin im Horizon 2020-Projekt „FairTax“, das u.a. zu nachhaltigkeitsorientierter Finanzierung des EU-Budgets forscht.
Zur Person | Bernhard Felderer
Bernhard Felderer war Professor für Volkswirtschaftslehre in Deutschland und in den USA. Er leitete 21 Jahre lang das Institut für Höhere Studien (IHS), seit der Gründung des Fiskalrates 2013 war er fünf Jahre dessen Präsident.
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