Die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln
Ein kritischer Blick auf Medien, Internet und die sozialen Netzwerke. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Essay: Vladimir Vertlib, Illustration: P.M. Hoffmann
Echter Diskurs findet in sozialen Netzwerken selten statt. Wenn verschiedene „Blasen“
aufeinandertreffen, werden bekannte Slogans und Argumente ausgetauscht.
Seit meiner Kindheit habe ich gelernt, mit Zuschreibungen zu leben. In Russland war ich der Jude, in Israel der Russe, in Österreich war ich mit diversen Klischees konfrontiert, die man mit Gastarbeiter*innen und Zuwanderern verband. In Amerika bezeichnete man mich als Kommunist, weil ich aus der Sowjetunion stammte. In Deutschland wiederum bin ich heute oft der „Ösi“, wenn man mich nicht fälschlicherweise für einen Bayern hält, was nördlich von Frankfurt am Main immer wieder passiert. Vielleicht reagiere ich deshalb gelassen, wenn mich in den sozialen Netzwerken andere Menschen auf ihre Weise neu erfinden.
Ich gebe es zu: Ich liebe soziale Netzwerke, liebe und hasse sie zugleich. Lange Zeit war ich süchtig und verschwendete Stunden, um mit Menschen zu streiten, die ich im realen Leben niemals beachtet hätte. Die Wirkung dieses Mediums kann wie Alkohol, Nikotin oder noch Härteres sein – das meiste davon habe ich nie oder nur selten konsumiert oder habe, wie im Falle des Nikotins, den Konsum längst hinter mir. Stattdessen oder auch ganz unabhängig davon hinterlasse ich immer noch regelmäßig meine Spuren auf Facebook, Instagram oder Twitter. Stolz darauf bin ich nicht.
Soziale Netzwerke funktionieren wie jede andere Droge: Sie bieten unmittelbare Befriedigung ohne die notwendige „Arbeit“, ohne persönliche Anstrengung also – eine Leistung und Errungenschaft, als deren Folge die Befriedigung auf natürliche Art entstehen könnte. So bieten Netzwerke beispielsweise die Möglichkeit zu einer unmittelbaren, wenn auch nur scheinbaren Kontaktaufnahme, ohne die Notwendigkeit, sich mit dem Gegenüber als reale Person auseinanderzusetzen. Sie geben die Erlaubnis, zu fast jedem Thema in einem halböffentlichen Forum eine Meinung abzugeben, ohne erst – wie in früheren Zeiten üblich – die Hürden eines Qualifikationsnachweises erbringen zu müssen. Vor allem aber bieten sie die Möglichkeit, sich hinter einem Fake-Profil zu verstecken und sich dem Zwang eines im realen Leben selbstverständlichen, angemessenen sozialen Verhaltens zu entziehen. Solange man nicht die Grenzen zur inzwischen verpönten „Hassrede“ überschreitet (und viele tun dies trotzdem), ist mehr oder weniger alles erlaubt. Verhielte man sich im realen Leben so, hätte man bald keine Freunde mehr.
Reizwörter streuen
Im sozialen Netzwerk schafft man sich jenen Raum, den man im realen Leben oftmals nicht hat. Dort breitet man die eigenen Gedanken aus, giert nach Aufmerksamkeit und Anerkennung, streitet, versucht, Frustrationen abzubauen, findet ein Ventil für Aggressionen. Auf die Gefühle anderer wird meist wenig Rücksicht genommen. Besonders wichtig ist es, positive Rückmeldungen und „Likes“ für die eigenen Statements zu bekommen. Das stärkt das Selbstwertgefühl, wirkt unmittelbar auf das Belohnungszentrum im Gehirn und dient als Anreiz weiterzumachen.
Oft geht es nicht einmal darum, was man schreibt, sondern wie man etwas formuliert und welche Reizwörter man verwendet und ob man gendert oder nicht. Im besonderen Maße wichtig ist außerdem, ob man eine provokante Aussage sofort in der Überschrift oder in der ersten Zeile oder erst in der dritten oder vierten Zeile tätigt, wo sie nur mehr von wenigen Leuten wahrgenommen wird. Die meisten Leute sind nicht bereit, für die Kommentare anderer viel Zeit aufzuwenden, denn in erster Linie geht es um Selbstdarstellung.
Echter Diskurs ist selten
Ein echter Diskurs findet in den sozialen Netzwerken selten statt. Wenn verschiedene „Blasen“ aufeinandertreffen, wenn sie sich überlappen, werden bekannte Slogans und Argumente ausgetauscht. Dabei geht es oft darum, wer rhetorisch geschickter ist und das letzte Wort hat, und nicht darum, zu überzeugen oder gar selbst etwas Neues zu erfahren. Wenn ein echter Austausch erfolgt, dann allenfalls innerhalb der Blasen selbst, zwischen im Wesentlichen Gleichgesinnten. Dabei geht es um Detailfragen und Informationen, nach denen meist direkt gefragt wird, oder um Hilfe in praktischen Dingen, um die gebeten wird. Somit tragen soziale Netzwerke zur Polarisierung bei, festigen aber die Gruppen Gleichgesinnter untereinander und erzeugen Solidarität. Das kann demokratische Bewegungen in Diktaturen stärken, aber auch gefährlich werden, wenn es um Rechtsradikale, religiöse Fanatiker und andere Feinde der Demokratie bei uns geht. Für Angehörige von Minderheiten bieten soziale Netzwerke allerdings sehr wohl die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen, sich schneller als früher zu organisieren und ihren Kampf zu intensivieren. Demokratiepolitische Initiativen profitieren von sozialen Netzwerken genauso wie diverse NGOs und Hilfsorganisationen.
Im Falle militärischer Konflikte merkt man rasch, dass die sozialen Netzwerke die Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln sind. Sie haben die Tendenz, jeden lokalen Konflikt ins Netz zu verlegen und somit international zu machen. Menschen in Australien und Kanada streiten miteinander auf Russisch über die Gründe und den Ausgang des Ukraine-Krieges. Syrische Flüchtlinge in den USA beschimpfen Islamisten im Irak. Mir selbst hat ein Putin-Anhänger in Russland schon einmal gedroht, den Kopf abzuschneiden, und ein österreichischer Rechtsradikaler schrieb mir einst: „Wir beobachten Sie! Faden im Kreuz.“ Durch das Internet wird alles öffentlich, nichts bleibt verborgen, verliert aber jegliche Glaubwürdigkeit, weil die Grenzen zwischen Fake und Realität verschwimmen, und man kaum noch überprüfen kann, was wahr, was Propaganda und was eine bewusste Lüge ist. Jeder kann mitmachen, sich eine eigene Wahrheit erschaffen und Anhänger finden. Dadurch wird die Realität zu einer Art Videospiel, bis echte Bomben einem auf den Kopf fallen oder ein echter Amokläufer mit echten Kugeln auf Menschen im realen Leben schießt …
Unendliche Chancen
Das Internet bietet für wissbegierige und kreative Menschen unendliche Chancen – Möglichkeiten, die sich frühere Generationen nie hätten träumen lassen. Es gibt durchaus Menschen, die dies erkennen, produktiv nützen und Positives leisten. Die moderne Wissenschaft, die Medizin, die Wirtschaft, Kultur, Bildung, das Rechts- und Sozialwesen – es gibt keinen Lebensbereich mehr, der ohne Internet auskäme, und wer erfahren möchte, wie man ein Vogelhäuschen baut, einen Wasserhahn montiert oder einen Reifen wechselt, findet dazu in wenigen Minuten ein passendes Video auf You- Tube – und das in fast allen Sprachen der Welt. Widerstandskämpfer*innen, Fluchthelfer*innen und Menschen in Not kommunizieren und organisieren sich über soziale Netzwerke. Menschen, die krank, alt und isoliert sind, finden Anschluss. Das alles ist ein großer Fortschritt, der nicht mehr wegzudenken ist. Insgesamt aber führt das Netz tendenziell zu einer Polarisierung und Trivialisierung der Gesellschaft. Dies gilt im besonderen Maße für Medien, und zwar nicht nur für jene, die online zu finden sind. Die Tendenz zur Verkürzung, Vereinfachung und Verschärfung beeinflusst klassische Printmedien und das Fernsehen gleichermaßen. Längst lassen sich soziale Netzwerke nicht mehr von Zeitungen oder dem Fernsehen oder von sachlich geführten Debatten inspirieren. Vielmehr gleichen sich Zeitungen und das Fernsehen in ihren Inhalten, dem Tonfall und der ästhetischen Ausstrahlung der Welt sozialer Netzwerke an. Dies ist vor allem an den immer öfter vorkommenden „pointierten“ Phrasen, an zahlreichen Ungeheuerlichkeiten und Untergriffen erkennbar. Das alles wird – trotz politischer Korrektheit und Wokeness in bestimmten Milieus – immer salonfähiger, wird dabei aber auch immer weniger ernst genommen. Ein gutes, wenn auch extremes Beispiel dafür ist der „Erste Kanal“ des russischen Fernsehens: Hier forderte ein bekannter Moderator schon vor Jahren, man solle Washington D.C. mit Raketen angreifen, bis nur mehr Atomstaub davon übrigbliebe. Heute hört man solche und ähnliche Aussagen bei „seriösen“ Diskussionsrunden auf diesem Kanal fast täglich. Das ist etwa genauso ernst zu nehmen wie die tagtäglichen Beleidigungen und Drohungen auf Facebook oder anderswo im Netz, aber es prägt das Denken, enthemmt, zerstört kontinuierlich das, was man früher als „Anstand“ und „gesittetes Verhalten“ bezeichnet hatte, und – soweit noch vorhanden – endgültig die Reste jeglichen Grundvertrauens in die Welt.
Selbstwahrnehmung schärfen
Natürlich gibt es weiterhin seriöse Medien mit gut recherchierter Berichterstattung und einem Feuilleton, das diesen Namen noch verdient. Gerade jene, die mit sprachlich differenzierten Beiträgen bewusst eine Gegenposition zum Zeitgeist einnehmen, erfüllen eine wichtige Funktion. Leider bleibt ihre Zielgruppe jedoch stets eine Minderheit.
Allein Facebook hat fast drei Milliarden regelmäßige Nutzer*innen bei einer Weltbevölkerung von knapp acht Milliarden Menschen. Zählt man Dienste wie Telegram, TikTok und noch weitere hinzu, kann man davon ausgehen, dass mehr als die Hälfte der Menschheit in ihrem Medien- und Sozialverhalten und somit auch in ihrer Selbstwahrnehmung und ihrer Weltanschauung von sozialen Netzwerken geprägt oder zumindest stark beeinflusst ist. Die einzige Möglichkeit, dieser Entwicklung wenigstens ein bisschen entgegenzuwirken, ist die ständige Vergewisserung, mit welchen Medien man es zu tun hat, wie sie funktionieren und wie gefährlich sie unter Umständen sein können. Vor allem sollte man bereit sein, die Kommentare anderer ernst zu nehmen, sich damit wirklich auseinanderzusetzen, sie hin und wieder auch als Bereicherung und als Gedankenanstoß zu sehen und dabei eigene Ansichten zu hinterfragen.
Vladimir Vertlib ist Schriftsteller und Essayist. 1966 in Leningrad (heute St. Petersburg) geboren, emigrierte Vertlib mit seinen Eltern 1971 nach Israel und lebt nach einer langen Migration mit mehreren Zwischenstationen seit 1981 in Österreich. Zuletzt erschien im Residenz Verlag sein Roman „Zebra im Krieg“.
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