Die Hölle auf Erden
Im Flüchtlingslager Kara Tepe leben tausende Menschen im Elend. Die vielen Appelle, das Camp zu evakuieren, werden ignoriert. Über ein Menschenrechtsverbrechen auf europäischem Boden und eine europäische Politik, die es duldet. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Anna Jandrisevits
„Es ist dreckig, es ist nass und es ist kalt.“, sagt Doro Blancke, wenn sie Kara Tepe beschreibt. Es sind Adjektive, unter denen man in Österreich etwas anderes versteht. Wenn es hier dreckig, nass und kalt ist, nutzen wir einen Regenschirm, drehen die Heizung auf oder ziehen warme Kleidung an. Es ist jenes menschengerechte Handeln, das den Menschen auf Lesbos verwehrt bleibt. In Kara Tepe leben knapp 7.500 Geflüchtete unter katastrophalen, lebensgefährlichen Zuständen. Sie sind aus Afghanistan, Syrien und anderen Ländern geflohen, weil ihnen jeder andere Ort sicherer erschien, als die eigene Heimat. Nun werden sie in einem Lager festgehalten, in dem es an Allem mangelt: an Nahrung, Hygiene, Wärme und Platz. Vor allem mangelt es jedoch an Menschenwürde. Denn Kara Tepe ist menschenunwürdig, sodass selbst Kinder ihren Lebenswillen verlieren.
Als Doro Blancke im September nach Lesbos kam, war von Moria nur mehr Schutt und Asche übrig. Die Hoffnung auf ein Ende des Elends erfüllte sich nach dem Brand nicht, auch vor dem neuen Lager verschließt die Europäische Union die Augen. Kara Tepe wurde zum zweiten Moria und der Aufenthalt von Blancke zu einer Mission. Seit sechs Jahren ist die Menschenrechtsaktivistin in der Flüchtlingshilfe tätig, im neuen Verein „Flüchtlingshilfe Doro Blancke“ leistet sie neben anderen Hilfsorganisationen unverzichtbare Arbeit in Kara Tepe. Die Pandemie ist hier nur eine von vielen Bedrohungen, momentan ist kein Corona-Fall im Camp bekannt. Der Standort an der Küste macht das Lager zu einem der windigsten Punkte der Insel. Während der Wind durch die undichten Zelte peitscht, überflutet der Regen das gesamte Gelände und lässt alles im Schlamm versinken. Es sind vor allem Lungen- und Hautkrankheiten, die die Menschen durch die Kälte und die schlechten Hygienebedingungen entwickeln. Für rund 7.500 Bewohner*innen gibt es 50 Warmwasserduschen. In den restlichen, mit Planen verspannten Duschen hängen Kübel mit kaltem Wasser, die man sich über den Kopf leert. An einem Ort, an dem es in der Nacht oft Minusgrade hat. „Dabei haben alle gewusst, dass der Winter und die Kälte kommen. Die Vorbereitungen laufen angeblich auf Hochtouren, aber davon haben wir nichts“, erzählt Blancke. „Die Leute frieren jetzt.“
Während der Wind durch die undichten Zelte peitscht, überflutet der Regen das gesamte Gelände und lässt alles im Schlamm versinken.
Gebrochene Kinder
Hunger ist in Kara Tepe ein ständiger Begleiter. Einmal am Tag liefert ein Caterer eine tiefgefrorene Mahlzeit, die im aufgetauten, kalten Zustand verteilt wird. Teilweise wird berichtet, dass das Essen verschimmelt ist. Die NGOs verteilen zusätzlich Mahlzeiten an die Bewohner*innen, wie ein tägliches Frühstück. Es gibt weder eine funktionierende Wasserleitung noch sichere Kochmöglichkeiten im Lager. Der Strom wird durch Generatoren erzeugt. Nach Unwettern hängen Stromleitungen teilweise im Wasser und es kommt zu Kurzschlüssen. „Man kann vielleicht mal einen Wasserkocher anschließen, aber es bricht immer wieder zusammen“, schildert Christoph Riedl von der Diakonie Österreich. Der Experte für Menschenrechte, Asyl und Migration war zuletzt im Dezember auf Lesbos. Grundsätzlich sei Kara Tepe sicherer als Moria, das ehemalige Militärgebiet habe mehr Struktur und starke Polizeipräsenz. Von Sicherheit, wie man sie auf europäischem Boden kennt, könne aber keine Rede sein. „Auch wenn es besser ist als vorher, war es vorher schon die absolute Katastrophe“, sagt Riedl.
Drei Viertel der Menschen im Lager sind Familien. Ab Einbruch der Dunkelheit bleiben die meisten in ihren Zelten. Frauen und Kinder hören mittags auf zu Trinken, damit sie nachts nicht auf die Toilette müssen. Angstzustände sind nur eine von vielen Krankheitszeichen, vor allem psychosomatische Beschwerden wie Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Depressionen treten häufig auf. Erschreckend viele Geflüchtete sind suizidgefährdet, unter ihnen auch Kinder. Im vergangenen Jahr behandelte die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ 49 Kinder wegen Suizidgedanken und Suizidversuchen auf Lesbos. Immer wieder kam es in den letzten Jahren zu Kinderselbstmorden, die meisten leiden unter schweren Traumata. „Ich möchte fast sagen, sie sind desillusioniert“, schildert Blancke die Situation. „In meiner Anfangszeit sind uns Kinder fröhlich entgegengerannt, das ist nicht mehr so.“ Die Kinder spüren die Verzweiflung ihrer Eltern und ziehen sich völlig zurück. Viele liegen apathisch in ihren Zelten, hören auf zu reden, wollen nicht mehr spielen, wollen nicht mehr leben. Die meisten Kinder haben den Brand von Moria nicht verarbeitet, werden von Albträumen geplagt und schlafwandeln. In der Nacht rennen sie panisch zum Wasser und laufen Gefahr, ins Meer zu stürzen, weil sie Flashbacks haben und glauben, es brennt. „Sie sind nervlich total überlastet“, erzählt Blancke. „Wenn ein Kind zu weinen beginnt, schreien zwanzig weitere.“
Frauen und Kinder hören mittags auf zu Trinken, damit sie nachts nicht auf die Toilette müssen.
Politisches Versagen
Indes wollen die griechischen Behörden verhindern, dass irgendjemand von Kara Tepe erfährt oder darüber berichtet. Den Bewohner*innen wird das Filmen und Fotografieren untersagt, der Zugang für Journalist*innen ist verboten. Schon im Dezember wurde eine österreichische Recherchegruppe daran gehindert, das Lager zu betreten. Die Menschenrechtsorganisation „Reporter ohne Grenzen“ kritisiert die Informationssperre scharf. „Es ist demokratiepolitisch sehr gefährlich, wenn Dinge ausgeblendet werden, die nicht erwünscht sind. Den Menschen muss es möglich sein, die Dinge selbst zu beurteilen“, sagt Rubina Möhring, die Präsidentin von RSF Österreich. „Solange man nichts weiß, nichts sieht, nichts hört, kann man auch nichts verurteilen.“
Seit Jahren appellieren NGOs für eine Evakuierung der griechischen Flüchtlingslager, seit Jahren passiert nichts. Trotz der Zustände in Kara Tepe lehnt die türkis-grüne Regierung die Aufnahme von Geflüchteten ab, man setzt auf Hilfe vor Ort. In einer medienwirksamen Aktion ließ Österreichs Innenminister Karl Nehammer 55 Tonnen Hilfsgüter nach Griechenland schicken. Laut NGOs kam fast nichts davon in Kara Tepe an. „Von den 400 Zelten, die versprochen wurden, wurden 25 aufgestellt. Die 181 Container stehen in einem Abschiebelager an der bulgarischen Grenze“, berichtet Riedl. Für die Geflüchteten wurden sie bis heute nicht als trockene Behausungen auf der Insel eingesetzt. Das geht aus einer parlamentarischen Anfrage der Neos an Nehammer hervor. Die Zeltheizungen mit 3.000 Watt sind hingegen für das dürftige Stromnetz unbrauchbar. „Wenn man nicht mal Glühbirnen anschließen kann, kann man auch keine Elektroheizungen anschließen.“ Auch die vor Weihnachten versprochene Tagesbetreuungsstätte für Kinder wurde noch nicht aufgebaut. Es ist unklar, wann das Projekt von SOS Kinderdorf starten kann. Selbst wenn, wäre die Betreuung eher Symbolpolitik als tatsächliche Hilfe, findet Riedl: „Es ist fast zynisch, Kinder tagsüber in einem beheizten Container zu betreuen und sie am Abend wieder in ihr nasses Zelt zurückzuschicken.“
In einer medienwirksamen Aktion ließ Innenminister Nehammer 55 Tonnen Hilfsgüter nach Griechenland schicken. Laut NGOs kam fast nichts davon in Kara Tepe an.
Starker Gegenwind
Es gibt keine Alternative zur Evakuierung und Unterbringung der Menschen in anderen Ländern und Unterkünften, da sind sich Hilfsorganisationen einig. Die Lager auf Lesbos stellen einen klaren Bruch der Europäischen Menschenrechtskonvention dar. Die griechische Regierung trägt aber nicht allein Schuld. „Es fehlt jede europäische Solidarität, und es ist absurd anzunehmen, dass Griechenland im Alleingang für alle Flüchtlinge verantwortlich sein soll“, meint Riedl. „Warum auch? Warum sollen Länder wie Österreich nicht einen Teil der gemeinsamen Verantwortung übernehmen?“ Tatsächlich gibt es viele in Österreich, die Verantwortung übernehmen wollen und sich gegen die Regierungshaltung stellen. Die Forderungen zur Aufnahme von Geflüchteten reichen von Prominenten über Bischöfe bis hin zu Pfadfindern. Bündnisse, Vereine und ganze Gemeinden bieten ihre Hilfe an und stellen klar: es gibt Platz. Die Initiative „Courage“ hat über 3.000 sichere Unterkünfte in Österreich ausfindig gemacht, die für Geflüchtete bereit ständen. Auch Doro Blancke ist überzeugt, dass die Mehrheitsgesellschaft in Österreich helfen will und appelliert an Bundeskanzler Kurz, 100 Familien aus Lesbos aufzunehmen. „Ich bin Europäerin, ich bin Österreicherin. Was die Regierung entscheidet, involviert mich“, so Blancke. „Und ich möchte nicht in ein Menschenrechtsverbrechen involviert werden.“
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