Die Schönheit der Verfassung
Die österreichische Verfassung enthält – anders als zum Beispiel das Grundgesetz Deutschlands – weder soziale Grundrechte noch eine Sozialstaatsklausel. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Kolumne: Martin Schenk
Die Schönheit der Verfassung zu würdigen, heißt, sie um soziale Menschenrechte zu vervollständigen. Jetzt zum Jubiläum 100 Jahre Verfassung legt die Armutskonferenz einen konkreten Gesetzesentwurf vor. Dieses „Bundesverfassungsgesetz soziale Sicherheit“ formuliert neben der Gewährleistung eines „menschenwürdigen Daseins“ folgende Rechte: das Recht auf Gesundheitsversorgung, das Recht auf Bildung und das Recht auf Mindestversorgung. „Jeder Mensch hat das Recht auf Mindestversorgung, die ein menschenwürdiges Dasein, insbesondere materielle Sicherheit, soziale und gesellschaftspolitische Teilhabe, gewährleistet.“ Der Entwurf folgt den Diskussionen im Österreich-Konvent sowie der Grundrechtscharta der Europäischen Union. Auch im aktuellen Regierungsprogramm steht, dass der Grundrechtskatalog erweitert werden soll. Jetzt könnte man sagen, ist ja alles eh wurscht, was bewirkt das schon? Da lohnt ein Blick nach Deutschland. Da ging es um die Zulässigkeit von Sanktionen bei Hartz IV und deren Vereinbarkeit sowohl mit der Würde des Menschen, als auch mit der Verpflichtung des Staates, existenzsichernde Maßnahmen zu setzen. Das deutsche Verfassungsgericht hat die Sanktionen aufgehoben; und argumentiert, dass „Menschen nicht auf das schiere physische Überleben reduziert werden dürfen, sondern mit der Würde mehr als die bloße Existenz und damit auch die soziale Teilhabe als Mitglied der Gesellschaft gewährleistet“ werden muss. Einer Spaltung in einen physischen „Kernbereich“ und einen sozialen „Randbereich“ der Existenzsicherung erteilt das Gericht eine klare Absage. In Österreich hingegen wird für die Diskussion des absoluten Minimums der Existenzsicherung meist das Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung herangezogen. Zum jetzigen Zeitpunkt orientiert sich also das Gericht in Karlsruhe mehr in Richtung soziale Teilhabe und Würde, wohingegen der Verfassungsgerichtshof in Wien einen weit niedrigeren Standard für seine Beurteilung wählt. So richtig schön ist unsere Verfassung erst dann, wenn die sozialen Menschenrechte Teil von ihr sein werden.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.
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