Die Stunde der Wahrheit
In Afghanistan gibt es Frauen und Männer, die den Schutz der EU dringend nötig haben. Werden die Europäer*innen helfen, oder sich endgültig von ihren Werten verabschieden? Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Kolumne über Diversität und Migration: Clara Akinyosoye
Seit Jahren hören wir von Politiker*innen, die illegale Migration müsse gestoppt werden, Flucht müsse geordnet stattfinden, aufgenommen werden sollten die, die wirklich bedroht sind und nicht automatisch jene, die sich mithilfe von Schleppern bis an die Grenzen Europas durchschlagen konnten. Fakt ist, es können aufgrund mangelnder legaler Fluchtwege, die Menschen gar nicht zu uns kommen, die kein Geld für einen Schlepper aufbringen können. Und in der Tat fliehen oft jene, denen man die beschwerliche und gefährliche Reise durch die Wüste oder übers Meer zutraut. Alte und kranke Menschen, Frauen und Kinder sind seltener in Europas Asylzentren anzutreffen als junge, kräftige Männer. Das löst immer wieder Irritationen und Diskussionen aus. Sie sind mitunter sehr unappetitlich. Wenn etwa Männern in widerwärtigster Weise nahegelegt wird, dass sie feig seien, weil sie flüchten, zeigt sich, wie unbarmherzig das patriarchale System auch zu ihnen sein kann: Wer nicht heroisch zur Waffe greifen und sterben will, ist eben kein echter Mann.
Als die radikalislamistischen Taliban in Afghanistan die Macht übernahmen, schienen viele Politiker*innen in der EU, der Friedensnobelpreisträgerin, besorgter darüber zu sein, ob Europa eine Flüchtlingsbewegung droht. Besorgter als über das, was den Menschen in Afghanistan nun bevorsteht. Frauen drohen Unterdrückung, Freiheitsberaubung, Missbrauch und Folter. Und es gibt Menschen, die derzeit besonders gefährdet sind: Frauen und Männer, die sich lautstark gegen die Taliban stellten, die den USA und Europa halfen, Aktivist*innen und Journalist*innen. Sollte die EU sie nicht rasch aufnehmen, die „Schwächsten“, die besonders Bedrohten? Sollte die EU ihnen nicht ermöglichen, in Würde und Sicherheit die Reise nach Europa anzutreten, statt sie auf eine gefährliche, unwürdige Flucht in verschlossenen LKWs und löchrigen Booten vor die geschlossene Festung Europas zu zwingen? Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Wahrung der Menschenrechte, Solidarität – Werte, auf die sich die Union gründet: Ob die Europäische Union nun beherzt hilft, ihren Werten und Worten treu bleiben wird oder nicht – wir werden es sehen. Es ist die Stunde der Wahrheit.
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