Ein Kern, der nach Freiheit schreit
Der Verein „Nachbarinnen“ unterstützt seit mehr als zehn Jahren Frauen, die zurückgezogen leben, beim Herauskommen aus der Isolation. Ende Mai wurde die Organisation mit dem Ute Bock-Preis von SOS Mitmensch ausgezeichnet. Zu Besuch bei den Nachbarinnen.
Text und Foto: Nadja Riahi.
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Eine stolze Zahl: Der Verein Nachbarinnen hat bis heute rund 4.000 Frauen begleitet. Die in Ottakring ansässige NGO hilft seit 2013 Frauen mit Flucht- oder Migrationshintergrund, die isoliert von der Gesellschaft leben, Schritt für Schritt aus dieser Isolation herauszukommen. Die „Nachbarinnen“ sind ausgebildete Sozialassistentinnen, die Familien im Alltag begleiten und bei Erledigungen unterstützen. Das kann zuhause, bei der Behörde oder beim Arztbesuch sein.
„Unser Konzept ist, dass wir auf die Frauen zugehen und sie einmal die Woche zu Hause besuchen. Abhängig von den jeweiligen Bedürfnissen treffen die beiden Frauen dann kleine Gegenvereinbarungen über die Aufgaben“, erklärt Mitarbeiterin Ayaan Adan Mohamed. Das bedeutet etwa: Wenn eine Frau bei ihrem AMS-Termin begleitet wird, liegt es in ihrer Verantwortung, das nächste Mal selbst dort anzurufen. Das stärkt die Selbstständigkeit und dadurch die Selbstermächtigung. „Durch unsere Arbeit möchten wir helfen, die Felsen wegzuräumen, die auf dem Weg der Integration herumliegen“, so Christine Scholten, Kardiologin und Mit-Gründerin der Nachbarinnen. „Oft haben die Frauen nicht einmal Kontakt zu ihrer eigenen Community. Bei unseren Bildungsfrühstücken lernen sie andere Frauen kennen und werden zu Freundinnen,“ ergänzt Adan Mohamed.
Ayaan Adan Mohamed und Christine Scholten sind überzeugt: Frauen und ganze Familien profitieren von der Unterstützung der „Nachbarinnen“.
Von Anfang an dabei
Ayaan Adan Mohamed hat vor zehn Jahren am Lernhilfe-Programm teilgenommen, heute ist sie die organisatorische Leiterin des Programms. „Ayaans Geschichte zeigt sehr schön, wie Familien von unseren Initiativen profitieren. Ihre Familie wurde von einer Frau aus Somalia begleitet. Wir wissen nicht, ob Ayaan ohne die Nachbarinnen die Schule fertig gemacht hätte. Heute studiert sie und ist eine wichtige Stütze im Verein. Und genau solche Entwicklungen wollen wir für Frauen erreichen“, sagt Gründerin Scholten. Sie sei selbst „ins Nutella-Fass hineingeboren worden und dort aufgewachsen“. Da es vielen anderen Frauen anders ergehe, möchte sie diese Frauen bestärken.
Die Zielgruppe der Nachbarinnen sind Familien aus vielen unterschiedlichen Kulturen, die in ihrem eigenen Mikrokosmos leben. „In einigen dieser Familien verlässt nur der Mann das Haus, wenn er etwa arbeiten geht oder die Kinder in die Schule bringt. Die Frauen ziehen sich gänzlich in ihre eigenen vier Wände und ihre Traditionen zurück“, sagt Christine Scholten. Dies habe unterschiedliche Gründe. Zum Teil seien die Strukturen so tief verankert, dass sie von alleine nicht zu durchbrechen sind. „In jeder Frau gibt es einen Kern, der nach Freiheit schreit, und diesen wollen wir erreichen. Dadurch stellen wir die Familie im positiven Sinne auf den Kopf und stärken im Endeffekt den Zusammenhalt“, ergänzt die Vereins-Gründerin.
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„DURCH UNSERE ARBEIT MÖCHTEN WIR HELFEN,
FELSEN WEGZURÄUMEN, DIE AUF DEM WEG LIEGEN“
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Ein Angebot der Nachbarinnen, das sich speziell an Kinder und Jugendliche richtet, ist die Lernhilfe. Dort werden mit dem Kind Ziele für das Schuljahr vereinbart. Das kann ein Lernplan sein oder das Vorhaben, jeden Tag fünf Seiten von einem Buch zu lesen oder 15 Minuten Mathe-Aufgaben zu machen. Diese kleinen Maßnahmen helfen den Familien, die mit dem System Schule nur wenig Berührungspunkte haben, die geeigneten Strukturen zu finden. Wenn das Kind die Ziele erreicht oder es zumindest versucht, dann bekommt es etwas dafür. „Das muss nichts Materielles sein. Lieber sollten es Dinge sein, die den Zusammenhalt der Familie stärken und sie aus dem Haus bringen, wie ein Spieleabend oder ein Ausflug in den Zoo. Wir fördern auch die Etablierung von Familienkonferenzen. Dort bekommt jedes Mitglied eine Stimme und darf mitsprechen. Darüber hätte auch ich mich als Kind gefreut“, sagt Scholten.
Finanziert wird die NGO aus Spenden, aus der öffentlichen Hand sowie durch Einkünfte der eigenen Nähwerkstatt. Dort arbeiten eine Schneidermeisterin und sieben fix angestellte Näherinnen. Außerdem gibt es immer zwei Praktikantinnen. „Die Frauen, die wir da begleiten, haben teilweise noch nie gearbeitet. Nach der Zeit in der Nähwerkstatt merken sie, wie bereichernd es ist, selbstständig zu sein und in der Früh aufzustehen, um wohin zu gehen“, sagt Ayaan Adan Mohamed. Nach einer Begleitung durch die Nachbarinnen, die zwischen drei und neun Monaten dauert, sind die Frauen nicht nur ins soziale Leben eingebunden, sondern auch auf der Suche nach einem Job, einem Bildungsangebot oder einem neuen Hobby.
Die Arbeit der Nachbarinnen wird regelmäßig mit Preisen ausgezeichnet. Erst kürzlich, am 21. Mai 2024, überreichte SOS Mitmensch dem Verein den Ute Bock-Preis für Zivilcourage. „Wir haben uns wirklich sehr darüber gefreut. Der Ute Bock-Preis hat ein großartiges Renommee und wir sind sehr stolz über die Würdigung unserer Arbeit“, sagt Christine Scholten. Auf die Frage nach den Plänen für ihre Zukunft antwortet Adan Mohamed: „Mein Wunsch ist es, dass die Lernhilfe weiter ausgebaut wird und wir dadurch noch mehr Kinder in ihrer Schullaufbahn unterstützen können.“ Und ganz gleich, wie sich ihr Leben weiterentwickle, sie werde immer mit dem Verein verbunden bleiben.
Nadja Riahi ist freie Journalistin und Moderatorin. Sie schreibt über gesellschaftspolitische Fragestellungen und soziale Ungerechtigkeiten.
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