Ein Land im Wandel
Lange haben katholische Kirchenvertreter für praktisch das ganze Land gesprochen. Doch Österreich verändert sich, unsere Gesellschaft wird weltanschaulich und religiös pluraler. Zudem haben Skandale für Kirchenaustritte gesorgt. Wie reagiert die Kirche darauf? Ein Gespräch mit dem Innsbrucker Bischof Hermann Glettler. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Eva-Maria Bachinger
Herr Bischof Glettler, der Anteil der Katholikinnen und Katholiken geht in Österreich seit Jahren kontinuierlich zurück. Womit hat das aus Ihrer Sicht zu tun?
Das hat zuerst demographische Ursachen. In Orten, wo es vor zwei Jahrzehnten noch sehr große Volkschulklassen mit vielen christlichen Kindern gab, sind es jetzt oft nur ein paar wenige. Nicht wenige Eltern lassen ihre Kinder bewusst nicht mehr taufen. Sie wollen ihnen die religiöse Entscheidung freistellen. Und natürlich spielt auch der Kirchenaustritt eine Rolle.
Die Bereitschaft, sich einer Organisation anzuschließen, wird insgesamt schwächer. Das trifft ebenso Vereine, Parteien und andere Institutionen.
Leider verursachten auch die beschämenden Skandale eine nachhaltige Vertrauenskrise.
Die Religionszugehörigkeit der Bevöl- kerung in Österreich hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich ver- ändert. Wie sehen Sie das, was bedeutet das für das Land?
Ja, tatsächlich, das ist eine kontinuierliche Verschiebung. Durch die Zuwanderung steigt der Anteil der muslimischen Bevölkerung – viele Familien mit mehreren Kindern. Unsere österreichische Gesellschaft wird damit weltanschaulich und religiös pluraler. Bitte beachten wir aber, dass Menschen, die offiziell keiner Kirche angehören, deshalb keineswegs Atheisten sind. Glaube und Spiritualität zeigen viele persönliche Profile.
Glettler: „Auch eine klare Haltung gegen Rassismus gehört zum Auftrag der katholischen Kirche und ist mir ein persönliches Anliegen.“
Was bedeutet dieser Wandel der religiösen Landschaft für Ihre Kirche? Wie würden Sie ihre Rolle in dieser veränderten Gesellschaft beschreiben?
Salz und Licht sein! Das wäre wohl die Antwort Jesu auf diese Frage. Er war extrem kritisch gegenüber dem sturen Beharren auf Traditionen, die ihre Sinnhaftigkeit verloren haben. Ein Umdenken ist notwendig. Wie Sie sagen, können wir nicht mehr von einer christlichen Volkskirche ausgehen, auch wenn 55 Prozent der Bevölkerung noch katholisch sind. Als Kirche sind wir herausgefordert, das Besondere der Frohbotschaft Jesu deutlicher zu kommunizieren. Im säkularen Umfeld gibt es eine erstaunliche Sehnsucht nach Sinn und Orientierung. Darin liegt auch eine Chance.
Auch eine klare Haltung gegen Rassismus gehört zum Auftrag der katholischen Kirche und ist mir ein persönliches Anliegen.
In welchem Bereich sollte die Kirche stärker Stellung beziehen?
Die katholische Kirche bezieht aktiv Stellung, wenn sie ihre Angebote, ob Kindergärten, Schulen oder die Hilfseinrichtungen der Caritas allen Menschen zugänglich macht. Da wird nicht nach dem Religionsausweis gefragt. Das passt nicht allen. Kirche ist an vielen Orten als zu „ausländerfreundlich“ verschrien. Ich habe als langjähriger Pfarrer in einem multikulturellen Hotspot in Graz immer versucht, Menschen zusammenzubringen. Das geht nicht nur durch Reden, sondern durch Begegnungen.
Wie kann ein Zusammenleben in einer multireligiösen bzw. teilweise nichtreligiösen Gesellschaft aus Ihrer Sicht gut gelingen?
Indem wir einander ernstnehmen. Begegnungen und Dialog sind wichtig. Jede Form von Respektlosigkeit gegenüber anderslautenden Überzeugungen ist schädlich. Das gilt für eine überzogene kirchliche Wichtigtuerei, aber auch für religionskritische Positionen, die genauso wenig vor Arroganz und ideologischer Verhärtung gefeit sind.
Was meinen Sie mit diesen Hinweisen konkret?
Konkret habe ich jüngst in der Sterbehilfe-Debatte erlebt, dass einer kritischen, nicht liberalen Position sehr schnell Unaufgeklärtheit vorgeworfen wird. Mit welchem Recht? Vermutlich sollten wir alle mehr zuhören. Schon als junger Mensch habe ich von Diskussionen mit Leuten, die sich als agnostisch oder kirchenfern bezeichnet haben, sehr profitiert. Wenn es uns gelingt, so manche Unsicherheit miteinander zu teilen, würden wir uns als Menschen näherkommen. In meinem Pfarrhof in Graz hat drei Jahre lang ein muslimischer Syrer bei mir gewohnt. Eine herzliche Freundschaft verbindet uns immer noch.
Es gibt immer wieder erschreckende Berichte über antisemitische und antimuslimische Ressentiments. Gibt es Veranstaltungen der katholischen Kirche gemeinsam mit jüdischen und muslimischen Gläubigen?
Bei Segnungen von Wohnanlagen treten wir häufig gemeinsam auf. Tief beeindruckend war für mich ein „Gebet für Afghanistan“ im Innsbrucker Dom, an dem kurz nach der Machtübernahme durch die Taliban Christen und Muslime beteiligt waren. Beim jährlichen Pogromgedenken ist eine multireligiöse Anteilnahme ganz selbstverständlich. Einmal im Jahr machen wir in Tirol ein Friedensgebet, zu dem ich oder der evangelische Superintendent einladen.
Politischer Islam: „Diese unpassende Wortwahl bringt jedes politisch-gesellschaftliche Engagement, egal welcher Religion, in Misskredit.“
Weihnachten, eines der wichtigsten Feste im Christentum, wird von vielen zunehmend als Familienfest angesehen oder leider nur als Konsumorgie begangen. Wie begegnen Sie diesem Phänomen?
Ich verzichte auf moralisierende Predigten, auch wenn die übertriebene Konsummentalität schon dazu verleiten würde. Jeder Mensch ist für seine Lebensgestaltung selbst verantwortlich. Dass wir Stille und Verzicht dringend brauchen, liegt doch auf der Hand. Mit der ungebremsten Gier nach Immer-Mehr wird niemand glücklich. Sie treibt höchstens unseren Planeten in eine finale Erschöpfung. Weihnachten ist die heilsame Unterbrechung. Das Fest der Geburt Jesu stellt das Wesentliche in die Mitte: Es ist der Mensch als Gabe Gottes, wunderbar und zerbrechlich zugleich. Durch Jesus ist der Mensch definitiv bei Gott beheimatet.
Muslimische Feste wie das Ende des Ramadans werden als fremd empfunden und nicht als Teil unserer Kultur. Wie ist Ihre Haltung dazu?
Ich beobachte, dass durch die großzügige Einladung zum Fastenbrechen auch muslimische Feste ins Bewusstsein der Bevölkerung rücken. Auch in Kindergärten und Schulen werden gelegentlich die religiösen Bräuche und Feste thematisiert. Das fördert ein natürliches Vertraut-werden mit religiöser Vielfalt. Mich irritiert der überzogene Eifer selbsternannter Aufklärer, religiöse Fragen und Gebräuche möglichst aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Religiöse Symbole sollten in ihrer Vielfalt auch weiterhin Platz haben.
Können Sie dafür ein konkretes Beispiel nennen?
Nur eine Begebenheit: Eine Kindergartenpädagogin hat sich beim „Lichterfest“ bei den anwesenden Eltern entschuldigt, dass in einem Lied das Wort „Gott“ vorgekommen sei. Zur selben Zeit hatte ich einige 100 Meter weiter am öffentlichen Platz ein „Martinsfest“, bei dem wir zur Ehre des Hl. Martin von Tours ganz selbstverständlich auch die muslimischen Kinder und Eltern einbezogen haben. Es war ein Fest für alle, weil wir auch deren Glauben gewürdigt haben. Ich glaube, dass es ein kultureller Verlust ist, wenn alle religiösen Profile und Bekenntnisse auf ein allgemeines Lichterfest-Niveau heruntergestutzt werden. Eine aufgeschlossene Vielfalt ist bereichernd.
Bischöfe und Vertreter der Caritas werden nach wie vor als Sprecher der Gesellschaft gesehen und melden sich auch bei wichtigen Fragen zu Wort. Wie geht es Ihnen mit dieser Rolle?
Als „Sprecher der Gesellschaft“ fühle ich mich nicht. Da wir jedoch als katholische Bischöfe die eindeutig größte Religionsgemeinschaft vertreten, macht es Sinn, dass wir uns bei gesellschaftlich relevanten Fragestellungen zu Wort melden. Wir tun dies bei den sensiblen Themen meist gut abgestimmt mit den anderen christlichen Konfessionen und anerkannten Religionsgemeinschaften. Bei öffentlichen Anlässen und Segnungen bewährt sich eine ökumenische oder sogar interreligiöse Praxis. Sie wird in Dialogforen und Vernetzungstreffen erarbeitet. Das ist österreichweit mittlerweile Standard.
Sie treten für die Aufnahme von Flüchtlingen ein und die Segnung von homosexuellen Paaren. Warum ist Ihnen das wichtig?
Die Achtsamkeit auf Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, gehört zum Auftrag Jesu. Seine Aussage in der Gerichtsrede ist eindeutig: „Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen.“ Papst Franziskus ist in dieser Frage nicht an Klarheit zu übertreffen. Wir müssen uns der Wirklichkeit einer Welt stellen, wo es neben den sozialen Schieflagen und Konfliktherden vor allem eine wachsende Migration aufgrund der sich verschärfenden Klimakrise gibt. Zur zweiten Frage: Mir scheint, dass wir keinem Paar, das ernsthaft um eine Segnung bittet, diese verweigern sollten. Gott geht mit uns allen mit. Maßstab ist seine zuvorkommende Zuneigung, die niemanden ausschließt.
Sie erwähnen Papst Franziskus, der sich immer wieder zu politischen Themen zu Wort meldet. Wie politisch darf Religion sein? Gibt es unterschiedliche Maßstäbe, wenn die Politik vom „politischen Islam“ spricht?
Das ist tatsächlich ein wunder Punkt. Wir haben als Bischöfe mehrmals darauf aufmerksam gemacht, dass es besser wäre von einem „politisch missbrauchten Islam“ zu sprechen. Die unpassende Wortwahl bringt jedes politisch-gesellschaftliche Engagement, egal welcher Religion, in Misskredit. Selbstverständlich sind Religion und Politik, Kirche und Staat voneinander zu trennen, auch wenn es in den Bereichen von Bildung, Kultur und Sozialem eine notwendige Zusammenarbeit geben muss. Religion berührt viele existentielle Lebensthemen, inspiriert und trägt daher das Gemeinwohl mit. Sie aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen, wäre eine Verarmung der gesamten Gesellschaft.
Hermann Glettler wurde 1965 in Übelbach in der Steiermark geboren. Er studierte Theologie und Kunstgeschichte in Graz, Tübingen und München. Als Pfarrer im multikulturellen Bezirk Graz-Gries engagierte er sich besonders auch für sozial Benachteiligte und Flüchtlinge. Er gehört der Kommission für den interreligiösen Dialog an. 2017 wurde er von Papst Franziskus zum Bischof der Diözese Innsbruck ernannt.
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