Eine goldene Chance
Salma Youssef, Haia Haddad und Rawad Zyadeh standen mitten im Leben, als der Krieg ihnen Existenz und Perspektive nahm. Ein humanitäres Aufnahmeprogramm gab ihnen beides zurück. Die Geschichte einer zweiten Chance. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Sonja Kittel
Es waren nur zwanzig Minuten, trotzdem werden Salma Youssef und ihre drei Kinder sie nie vergessen. Zwanzig Minuten, um zu Fuß aus Syrien in den Libanon zu fliehen. Im Zickzack, um den Landminen zu entgehen. In Todesangst, weil sie nicht wussten, was im nächsten Moment passieren würde. Es war das Jahr 2012, als in Syrien bereits seit einem Jahr der Bürgerkrieg tobte. Salma Youssefs Mann war im Gefängnis, sie und ihre Kinder nicht mehr sicher. Youssef ist eine starke Frau, doch wenn die heute 40-jährige darüber nachdenkt, dass andere Menschen wochen- oder monatelang auf der Flucht sind, darunter kleine Kinder, oft alleine, hungrig, schmutzig und verängstigt, dann kommen ihr fast die Tränen. Youssef und ihrer Familie blieb dieses Leid erspart, weil sie für ein humanitäres Aufnahmeprogramm ausgewählt wurden. 2015 ging es via Resettlement nach Graz und in ein neues Leben.
Drei humanitäre Aufnahmeprogramme in den Jahren von 2013 bis 2018 ermöglichten es 1.250 schutzbedürftigen Menschen, in Österreich ein neues Leben in Sicherheit zu beginnen. Georg Plentner, Mitarbeiter der Caritas Graz, war bei allen drei Programmen Teil eines Teams, das die Menschen nach ihrer Ankunft in Österreich für ein Jahr begleitete. Vor sieben Jahren begrüßte er Salma Youssef, ihren Mann und die drei Kinder in ihrer neuen Wohnung in Graz, die die Caritas vorab organisiert hatte. Er und seine Kolleginnen unterstützten bei Behördengängen, meldeten die Kinder für Kindergarten und Schule an und kümmerten sich um Deutschkurse. „Einmal pro Woche gab es einen Termin, bei dem allfällige Probleme besprochen wurden. Wir haben auch versucht herauszuarbeiten, welche Zukunftsperspektiven es gibt. Manchmal sind wir auch einfach gemeinsam zu einem Fußballspiel gegangen“, erzählt Plentner.
Georg Plentner (Caritas) begleitete Menschen nach ihrer Ankunft in Österreich.
Über die Kirche zum Resettlement
Auch Haia Haddad kam 2015 über ein humanitäres Aufnahmeprogramm nach Österreich. Als der Krieg in Syrien ausbrach, war für sie und ihre Familie klar, dass sie dort keine Zukunft mehr hatten. Haddad versuchte erfolglos über ein Studierendenvisum nach Deutschland oder in die USA zu kommen. „Eine Flucht über das Meer kam für uns nicht in Frage, weil es viel zu gefährlich und zu teuer war,“ erinnert sie sich. Über die Kirche erfuhren sie von der Möglichkeit über Resettlement nach Österreich zu kommen und meldeten sich beim UNHCR. In der Zwischenzeit waren Haddad und ihre Schwestern in den Libanon geflohen. Nach ungefähr einem Jahr hatten sie ihr erstes Interview bei der Österreichischen Botschaft und nach der Übermittlung zahlreicher Dokumente und einem zweiten Interview bekamen sie die Nachricht, dass sie nach Österreich reisen durften.
„Für mich war das eine goldene Chance“, sagt Rawad Zyadeh heute über die Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen und sich dort ein neues Leben aufzubauen. „Ich hatte ein gutes Leben in Syrien und genoss auch auf gesellschaftlicher Ebene einen gewissen Respekt als Anwalt. Dann habe ich alles verloren, meine Freunde, mein Geld, einen Teil meiner Familie.“ Zyadeh hat in Syrien Jus studiert und einen Master in öffentlichem Recht abgeschlossen. Als der Krieg begann, wurde er aufgrund seiner politischen Meinung verfolgt, sein Haus zerbombt. Er floh in den Libanon, meldete sich beim UNHCR als Flüchtling und schlug sich als Kellner durch. Als er die Hoffnung auf ein gutes Leben schon fast aufgegeben hatte, kam die Zusage für das Resettlement. Sein Vater war in den siebziger Jahren für einen Studienaufenthalt in Deutschland gewesen, jetzt kehrte er gemeinsam mit seiner Familie zurück.
Auch Haia Haddad konnte den syrischen Kriegswirren 2015 sicher entkommen. Damals hatte Österreich noch ein humanitäres Aufnahmeprogramm.
Verschiedene Aufnahme-Schwerpunkte
Salma Youssef, Haia Haddad und Rawad Zyadeh sind drei der wenigen Menschen, die über ein humanitäres Aufnahmeprogramm legal nach Österreich, bzw. Deutschland kommen konnten.
Das UNHCR hat bestimmte Vulnerabilitätskriterien festgelegt, um eine Auswahl treffen zu können. Laut Georg Plentner hatten die Programme in Österreich jeweils einen anderen Aufnahme-Schwerpunkt: Gefängnis- und Foltererfahrung, medizinische Probleme und Anknüpfungspunkte in Österreich. Auch die „Integrationsfähigkeit“ sei ein wichtiges Kriterium, wie Zyadeh bei seinen Interviews erfahren hat. Wie schnell die Menschen sich dann tatsächlich in ihrem neuen Zuhause zurechtfinden und ein selbstständiges Leben führen können, hängt allerdings von vielen Faktoren ab.
Rawad Zyadeh, der nun schon seit drei Jahren beim Landesamt für Zuwanderung und Flüchtlinge ins Schleswig-Holstein arbeitet, hat einen Master in „Migration und Diversität“ an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel absolviert und seine Masterarbeit zum Thema Resettlement geschrieben. Der 38-Jährige führte Interviews mit Personen, die vor mehr als sechs Jahren über ein Resettlement-Programm nach Deutschland gekommen sind und erfragte ihren Werdegang. Viele hatten schlechte Erfahrungen mit Behörden gemacht und aufgrund falscher Vorstellungen Enttäuschungen erlebt. Auch Georg Plentner hat in seiner Arbeit ähnliche Erfahrungen gemacht. Beide wünschen sich für zukünftige Aufnahmeprogramme eine bessere Vorbereitung im Herkunftsland und Mentoring-Programme nach der Ankunft. Dass solche Programme dennoch Sinn machen, liegt für beide auf der Hand. „Die Menschen müssen keine abenteuerliche Flucht unternehmen. Ihre Reise ist organisiert und sicher“, sagt Plentner. „Humanitäre Aufnahmeprogramme machen Sinn, weil sie Leben retten,“ betont auch Zyadeh. Er selbst hatte Glück. Als er und seine Familie in dem kleinen Ort in Schleswig-Holstein ankamen, warteten schon der Bürgermeister und seine Frau in ihrer Wohnung. Sie luden sie zum Jahresempfang der Gemeinde ein und Zyadehs Vater, der bereits Deutsch konnte, hielt einen Vortrag über Syrien. „Viele Anwesende gingen auf uns zu und haben gefragt, welche Bedürfnisse wir haben. Sie kamen in den nächsten Monaten immer wieder und haben uns geholfen mit dem Papierkram, der Ausländerbehörde und dem Jobcenter“, erzählt Zyadeh. „Wir hatten Glück. Die Kontakte sind bis jetzt aufrecht und wir sind Freunde geworden. Ich habe vor drei Jahren hier in Deutschland geheiratet und alle waren eingeladen.“
Sichere Flucht: Lehrerin Salma Youssef wurde mit ihrer Familie für humanitäre Aufnahme ausgewählt.
Schnell ins neue Leben gefunden
Auch Haia Haddad konnte schnell in ihr neues Leben in Wien starten. Sie lernte Deutsch und fand nach eineinhalb Jahren ihren ersten Job. Daneben inskribierte sie über das MORE-Programm an der WU, um ihr Studium abzuschließen. In Syrien hatte sie BWL studiert und es fehlten nur noch wenige Prüfungen. Seit eineinhalb Jahren ist die 27-Jährige bei der Österreichischen Post tätig und nimmt dort an einem Ausbildungsprogramm für IT und Projektmanagement teil. In ihrer Freizeit reist sie gerne und verbringt viel Zeit mit ihren Schwestern und Freunden. Sie versucht sich auch als DJ und macht, wenn Zeit bleibt, Musik. „Wenn ich in Syrien geblieben wäre, hätte ich keine Arbeit, keine Zukunft und ich wäre in ein Leben gezwungen worden, das ich nicht will. Ich schätze es sehr, dass ich diese wunderbare zweite Chance bekommen habe und ich glaube auch andere Menschen haben ein Recht darauf“, sagt Haddad.
Obwohl derzeit nur knapp fünf von hundert besonders schutzbedürftigen Geflüchteten Schutz in einem sicheren Aufnahmeland erhalten haben, hat Österreich sämtliche humanitäre Aufnahmeprogramme eingestellt. Die derzeitige türkis-grüne Regierung hat das Thema nicht einmal mehr ins Regierungsprogramm aufgenommen. „Die Kinder können diese Geschichten nie vergessen. Sie werden mit dem Gefühl im Herz geboren, dass sie nicht gewollt werden, alleine sind und keine Unterstützung bekommen. Sie sollten ihre Zeit mit Lernen und Spielen verbringen, nicht so“, sagt Salma Youssef. Die 40-Jährige und ihre Familie haben durch das humanitäre Aufnahmeprogramm die Möglichkeit auf das bekommen, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Sie und ihr Mann arbeiten, ihr ältester Sohn macht derzeit eine Lehre, ihre Tochter und der jüngere Sohn besuchen das Gymnasium. Sie können in Sicherheit und Frieden leben, vielen anderen Menschen bleibt das weiterhin verwehrt.
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