
Gute Seiten, schlechte Seiten – erstes Fazit zum Regierungsprogramm
SOS Mitmensch begrüßt das Zustandekommen der neuen Bundesregierung - ohne rechtsextreme Beteiligung. Angesichts des Aufstiegs antidemokratischer Kräfte ist das ein wichtiger Schritt. Das darf uns jedoch nicht blind für die vielen politischen Aufgaben machen, die es zu bewältigen gilt. Deshalb haben wir das neue Regierungsprogramm einer ersten inhaltlichen Analyse unterzogen.
Ambitionierte Vorhaben, destruktive Punkte und einige Leerstellen
Wir haben im neuen Regierungsprogramm eine Reihe an ambitionierten Vorhaben gefunden, die eine Verbesserung bringen würden. Es befinden sich im Programm aber auch Punkte, die wir als destruktiv erachten und daher klar ablehnen. Im Folgenden die Auflistung und Einschätzung einiger Regierungsvorhaben aus dem menschenrechtlichen und demokratiepolitischen Spektrum. Darüber hinaus nennen wir Leerstellen, bei denen wir Maßnahmen vermissen.
Als positiv erachten wir:
- die für unseren Rechtsstaat wichtige Stärkung der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften durch Schaffung einer Bundesstaatsanwaltschaft,
- die geplante Einführung einer auf Sach- und Transferleistungen beruhenden chancengerechten Kindergrundsicherung,
- die angekündigte Verbesserung des Fachkraft-Kind-Schlüssels für die frühe sprachliche Förderung,
- die geplante rasche Umsetzung eines zweiten verpflichtenden Kindergartenjahres,
- zusätzliche Mittel für Spracherwerb und Sozialarbeit an Schulen,
- den Schul-Chancenbonus, der Extra-Ressourcen für jene Schulen bringen soll, die mit großen sozialen Herausforderungen konfrontiert sind,
- die bundesweite Einführung von Demokratiebildung als eigenes Schulfach,
- Integrationsmaßnahmen für Asylsuchende ab Tag 1,
- Obsorge für geflüchtete Kinder ab Tag 1,
- Berücksichtigung des Kindeswohls in allen asyl- und fremdenrechtlichen Verfahren,
- die Erstellung eines Nationalen Aktionsplans gegen Rechtsextremismus
- die Stärkung der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus
- die angekündigte Weiterentwicklung des Nationalen Aktionsplans zur Extremismusprävention und Deradikalisierung,
- die Streichung von leichten Verwaltungsübertretungen als Grund für die Nichtgewährung der österreichischen Staatsbürgerschaft,
- die Ankündigung von Maßnahmen für die Selbstbestimmung von Mädchen sowie für die Sensibilisierung von Burschen.
Als destruktiv erachten wir:
- den temporären Stopp des Familiennachzugs, weil dieser Familien zerreißt, Geflüchteten das Fuß-Fassen in Österreich erschwert und darüber hinaus rechtlich problematisch ist,
- die Einschränkung der Sozialleistung für Geflüchtete in den ersten drei Jahren, weil das tiefe Armut, insbesondere von Kindern, bedeutet und rechtlich problematisch ist,
- die Kürzung der Kinderbeträge in der Sozialhilfe, weil auch das tiefere Armut jener Kinder, die es ohnehin schwer haben, bedeutet – und es im Widerspruch zur angekündigten Kindergrundsicherung steht,
- die Zielgröße von „Null Asylanträgen im Inland“, weil sie inhaltlich problematisch, realitätsfremd und nur durch eklatanten Rechtsbruch umsetzbar ist,
- die Erweiterung der Möglichkeit, „verwertbare Gegenstände, ausgenommen persönliche Gegenstände, von Asylwerber:innen zu beschlagnahmen“, weil das für Betroffene entwürdigend ist und die ohnehin oft extrem prekäre Situation von Geflüchteten verschlimmern kann,
- die weitere Anhebung der hohen Deutscherfordernisse beim Zugang zur Staatsbürgerschaft, weil das den ohnehin extrem schwierigen Staatsbürgerschaftserwerb (Österreich ist diesbezüglich Schlusslicht in Europa) noch hürdenreicher machen,
- verfassungswidrige, weil nur Angehörige einer einzigen Religion betreffende, Verbotsmaßnahme (Kopftuchverbot), die nicht nur rechtlich diskriminierend ist, sondern darüber hinaus die eigentlich notwendige konkrete Empowerment-Arbeit mit Mädchen unterschiedlicher Herkunft und Religion zur Stärkung ihres Selbstbewusstseins und ihrer Selbstbestimmung in den Hintergrund drängt.
Schmerzliche Leerstellen im Regierungsprogramm sind:
- fehlende Maßnahmen, um den für viele hier geborene Kinder versperrten Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft aufzubrechen,
- fehlendes Problembewusstsein betreffend des stetig wachsenden Wahlausschlusses hier lebender Menschen,
- NIchterwähnung der destruktiven schulischen Frühselektion (im Programm findet sich lediglich eine vage Notiz zur „Erleichterung von Modellregionen für eine gemeinsame Schule“),
- fehlende Öffnung des Zugangs zur Sozialhilfe für nach Österreich geflüchtete Ukrainer:innen mit Vertriebenenstatus, um dauerhafte extreme Armut zu verhindern,
- keinerlei Erwähnung eines Nationalen Aktionsplans gegen Rassismus (der Kampf gegen Rassismus wird im Programm ausschließlich in Zusammenhang mit dem Engagement Österreichs im Ausland erwähnt - für das Inland wird Rassismus demgegenüber, entgegen der Alltagsrealität, ausgeblendet),
- fehlender Nationaler Aktionsplan gegen Muslimfeindlichkeit, um eine klare Grenze zu ziehen, zwischen, auf der einen Seite, legitimer Religionskritik und, auf der anderen Seite, der scharf zu verurteilenden pauschalen Stigmatisierung und Abwertung von Menschen allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit,
- fehlende Anerkennung der Vielfalt an Biographien und Lebensentwürfen, die das demokratische Österreich ausmachen (stattdessen wird im Regierungsprogramm von „der österreichischen Lebensart“ gesprochen, als ob es nur eine einzige gäbe, und diese „eine Lebensart“ ausschließlich mit christlichen Feiertagen in Verbindung zu bringen sei, so als ob Österreich kein sowohl multi- als auch nichtreligiöses Land wäre).
SOS Mitmensch wird für die rasche Umsetzung der positiven Maßnahmen im Regierungsprogramm kämpfen! Den destruktiven Vorhaben werden wir demgegenüber mit vollem Einsatz entgegentreten - und die Leerstellen nicht aus den Augen verlieren!
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