Erzählen wirkt
In Erzählcafés treffen verschiedene Menschen aufeinander: jung, alt, Arbeiter:innen, Akademiker:innen, mit und ohne Migrationsgeschichte. Sie zeigen im Kleinen, wie erzählen und zuhören verbinden kann.
Text: Milena Österreicher.
Ein Beitrag im neuen MO - Magazin für Menschenrechte.
Jetzt mit einem MO-Solidaritäts-Abo unterstützen!
Dazu fällt mir noch etwas ein“, sagt Inge*. Es ist Montagnachmittag, durch die Glasfront der Hauptbücherei Wien blitzen rote und weiße Autolichter, die entlang des Gürtels in beide Richtungen ziehen. In einem losen Sesselkreis sitzen an die fünfzehn Menschen zusammen. In der Mitte stehen zwei Tischchen mit Kaffeekannen, Milch, Zucker und ein paar Merci. Heute ist wieder Erzählcafé.
Einmal im Monat kommen Menschen hier zusammen und erzählen zu einem vorgegebenen Thema aus ihrem Leben. Heute geht es um Neuanfänge. Inge berichtet vom Start in ihr Berufsleben. Maria vom Beginn ihrer Auslandsjahre in Lateinamerika. Nina von den Menschen, die sie zu neuen Jobs inspiriert haben. Eine Geschichte wechselt die nächste ab.
Moderiert wird die Runde von Gert Dressel. Der Historiker organisiert und leitet seit mehr als 25 Jahren lebensgeschichtliche Gesprächskreise. „Mich fasziniert bis heute die Kraft des Erzählens“, sagt er. Erzählen sei nicht einfach nur sprechen. Es gehe um konkrete, selbsterlebte Geschichten. Um Menschen zum Erzählen zu bringen, brauche es eine aktive Haltung des Zuhörens. Eine Regel gilt es zu beachten: Das Erzählte wird weder kommentiert noch bewertet. Zuhören und ausreden lassen, ist die Devise.
In der Hauptbücherei Wien kommen einmal im Monat Menschen im Erzählcafé zusammen. Geteilt werden: Lebensgeschichten, Erinnerungsstücke, Kaffee und Süßes.
Einander begegnen
Aufrichtiger Austausch kommt im realen Leben oftmals zu kurz. Gespräche brechen in Konflikte aus. Auf den sozialen Medien herrscht ein aggressiver Tonfall. On- und offline bewegt man sich oft nur in seiner eigenen „Bubble“, tauscht sich also mit Menschen aus, die ähnliche Einstellungen und Lebenserfahrungen mitbringen. „Es ist auch gelebte demokratische Praxis, wenn Menschen mit unterschiedlichen Backgrounds einander erzählen und zuhören“, meint Gert Dressel. Es könne dazu dienen, sich selbst und andere besser zu verstehen.
Eine positive Verbundenheit mit anderen Menschen kann gerade in Zeiten mehrfacher Krisen, wie wir sie heute erleben, helfen. Ein Team rund um Peter Turchin und Daniel Hoyer vom Complexity Science Hub in Wien veröffentlichte im Herbst des Vorjahres eine Studie dazu, wie Gesellschaften bei multiplen Krisen bestehen können. Die Komplexitätsforscher:innen suchten nach Faktoren, die es Gesellschaften historisch erlaubt hatten, solche Situationen zu meistern. Das Ergebnis: Vor allem sozialer Zusammenhalt bringt Stabilität. Und dieser schöpft sich auch aus Empathie mit anderen.
_______
AB DEN 1980ERN FANDEN DIE GESCHICHTEN
DER „KLEINEN LEUTE“ IHREN PLATZ.
_______
Mündliche Geschichte(n)
Die Idee der Erzählcafés stammt aus der Biografiearbeit und den lebensgeschichtlichen Gesprächskreisen, die seit den 1980er Jahren stattfinden. Damals erreichte die Oral History, also die mündlich überlieferte Geschichte, im deutschsprachigen Raum einen Höhepunkt. In Gesprächskreisen und daraus resultierenden Publikationen fanden nun auch die Geschichten der „kleinen Leute“ ihren Platz: die der Arbeiterschaft, der Frauen oder anderen marginalisierten Gruppen.
„Auch die Erfahrungen in der NS-Zeit waren zunehmend Thema“, berichtet Gert Dressel. In einem Gesprächskreis in einem Senior:innen-Wohnheim in Ottakring waren etwa – wie sich im Lauf der Gespräche herausstellte – sowohl Jüdinnen, die die NS-Zeit überlebt hatten, als auch ehemals engagierte Nationalsozialistinnen. Mit der Zeit sprachen alle über ihre Erfahrungen in der NS-Zeit. Eine Teilnehmerin, deren Mann im Konzentrationslager Dachau ermordet wurde, sagte danach: „Ich konnte mich freisprechen von dem Ganzen, so wurde mir leichter. Und so etwas gibt sehr viel, wenn man sprechen kann.“ Das Erzählen sei keine Therapie, könne aber laut Dressel therapeutische Effekte zeigen. Besonders berührt hat ihn auch ein Gesprächskreis mit einer KZ-Überlebenden und jungen Geflüchteten, die ihre Erfahrungen mit dem Verlassen der Heimat und Flucht teilten.
Themen, über die jede:r etwas zu erzählen hat, gibt es viele: Abschiede, Ankommen, Essen und Trinken, Feiertage, Geschenke, Kostüme, Neuanfänge und viele mehr.
Erzählräume für Frauen
Zu biografischen Gesprächen laden aber auch scheinbar banale Themen, wie Essen und Trinken in der Kindheit, ein. An welche Gerüche erinnert man sich? Welche Sitzordnung herrschte zu Tisch? Was gab es an Feiertagen? In welchen Geschäften besorgte man die Lebensmittel? Welche Geschichten kommen da hervor?
„Es ist faszinierend, wie viel uns alle verbindet“, stellt auch Soziologin und Trainerin Katharina Novy fest. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Sabine Aydt organisiert sie in Erwachsenenbildungseinrichtungen in Österreich Erzählworkshops für Frauen. Ihre Teilnehmerinnen kommen aus Afghanistan, Brasilien, Syrien, Österreich und vielen anderen Ländern.
„Verbinden kann uns das Aufwachsen am Land oder in der Stadt, die Care Arbeit in der Familie, das Aufbrechen traditioneller Rollen oder Schicksalsschläge“, sagt die Soziologin. Wenn es in einem Workshop keine gemeinsame Sprache gibt, die alle sprechen, behelfe man sich mit Übersetzungsapps und manchmal eben mit Händen und Füßen. Durch das persönliche Vortragen bekomme man mit, was die Frau teilen möchte.
„Es ist spannend, von Menschen zu hören, mit denen ich sonst selten in Kontakt komme“, sagt Inge in der Hauptbücherei über ihre Motivation, regelmäßig ins Erzählcafé zu kommen. Hier kommt ein Potpourri an Lebenserfahrungen zusammen, die im Großen oder Kleinen verbinden: über Generationen, Bildungsgrad, politische Einstellung, Herkunft und manchmal sogar über eine gemeinsame Sprache hinweg.
*Die Namen der Teilnehmerinnen wurden von der Redaktion geändert
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo