
Es geht um die Systeme
Die ehemalige ÖSV-Schirennläuferin Nicola Werdenigg ging vor zwei Jahren an die Öffentlichkeit und berichtete, wie sie mit 16 Jahren vergewaltigt wurde. Der ÖSV blockte ab, drohte mit Klage. Ein Gespräch über männliche Machtnetzwerke, Solidarität und Sportpatriotismus. Werdenigg wurde – gemeinsam mit MAIZ – von SOS Mitmensch mit dem Ute-Bock-Preis für Zivilcourage 2019 ausgezeichnet. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Barbara Kaufmann, Fotos: Karin Wasner.
Vor etwas mehr als 500 Tagen sind Sie mit Ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen. Wie bereitet man sich auf so einen Augenblick vor?
Die wichtigste Vorbereitung war, dass ich meine Vergewaltigung schon gut 20 Jahre vorher verarbeitet hatte. Ich bin nicht mehr Opfer gewesen. Ich war auch nicht mehr schwer betroffen, sondern ich nenne es gerne „die reife Betroffenheit.“ Mir ist etwas passiert und ich musste damit umgehen. Ich habe keine Wut mehr. Ich kann darüber reden und ich muss darüber reden, weil ich weiß, dass es anderen ähnlich geht. Die sind wütend, verletzt, traurig, traumatisiert. Ich gehe diesen Schritt auch für sie. Natürlich habe ich auch eine lange Psychotherapie gemacht. Dann war da auch mein Mann, dem ich mich anvertraut hab und meine Kinder, die Verständnis für mich hatten. Das wichtigste war für mich, die Fakten sehen zu können. Ich wollte mich an niemandem rächen.
Wie waren die Reaktionen im privaten Bereich, etwa von ehemaligen Kolleginnen?
Es gibt viele Sportlerinnen, auch aus meiner Generation, die sich noch immer stark über ihre sportliche Karriere definieren. Dort habe ich eine starke Skepsis erlebt, die bis heute besteht. Dann gibt es Gleichaltrige, die andere Berufe gewählt haben nach dem Schifahren. Da erlebe ich sehr viel Rückhalt und Zuspruch. Das liegt in der Natur der Sache. Ich habe die Reaktionen aber nie persönlich genommen, das tue ich bis heute nicht. Ich interessiere mich eher für die soziologische Ebene.
Die da wäre?
Dass das einfach Systeme sind mit totalen Tendenzen. Das ist im Sport so. Das ist in der darstellenden Kunst so, wo es körperliche Prioritäten gibt, wo der Körper das Instrument ist, das Werkzeug. Diese Hierarchien sind männerdominiert. Da haben Frauen nur ganz ganz selten das Sagen. Im Schiverband gibt’s zwei, drei Quotenfrauen unter 50 Männern. Das sind Strukturen, die in anderen Bereichen schon hinterfragt werden. Im Sport und in der Kunst sind sie noch da.
Woran liegt das?
Daran, dass wir es mit Netzwerken zu tun haben, die ihre Macht gefunden haben und diese Macht erhalten wollen. Und wie kann man Macht erhalten? Das geht über sexuelle Komponenten, das geht über Geld, über Anerkennung und Ruhm bis hin zur Gewalt. Wie ist das, wenn man sich als Einzelne gegen so eine Machtstruktur stellt? Ich hab nie das Gefühl gehabt, dass ich allein dastehe. Ich habe so eine großartige Familie. Ich hatte einige sehr gute Freunde zu dem Zeitpunkt und ich habe einige sehr gute Freunde durch den Schritt dazu gewonnen. Ich bin nicht allein.
Wie begegnen Ihnen Menschen in der Öffentlichkeit?
Es ist interessant, wie mich wildfremde Menschen auf der Straße, in der U-Bahn, im Lebensmittelgeschäft ansprechen. Sie sagen: “Danke, dass Sie das gemacht haben. Ich finde das toll. Ich stehe hinter Ihnen.“ Ganz am Anfang ist einmal ein Mann auf mich zugekommen, ein alter Mann in der U-Bahn, und sagte zu mir: „Warum erst jetzt?“ Das ist ja die Standardfrage. Ich konnte ihm dann erklären, dass es nicht Rache war. Und er hat es verstanden.
Welche Rolle spielen denn Vergeltung und Rache für Sie?
Mir wird das natürlich alles unterstellt. Vergeltung, Neid auf erfolgreichere Athletinnen, Geltungssucht. Dass es mir um materielle Vorteile geht, warum auch immer, das Gegenteil ist der Fall. Wer mir so etwas unterstellt, der wird selbst nicht von solchen Gefühlen frei sein.
Wozu raten Sie anderen Betroffenen, wenn sie ihre Erlebnisse öffentlich machen wollen?
Inneren Frieden mit sich zu schließen. Sich selbst keine Schuld mehr zu geben. Zu sagen, es ist etwas Schlimmes passiert, aber ich achte zuerst darauf, dass es mir gut geht. Ich halte es beinahe für unmöglich, dass man das ohne Therapie schafft. Zu sagen, das mache ich mit mir selbst aus, ist nicht zielführend. Mir hat es sehr geholfen. Ich rede auch immer wieder mit einem Psychologen, dem ich sehr vertraue. Damit mir meine Perspektive erhalten bleibt, damit in mir kein Hass aufkommt.
Wie hat sich der ÖSV Ihnen gegenüber verhalten?
Das war eigenartig. Zuerst wurde mir über die Medien ausgerichtet, dass ich verklagt werde. Dann ist zurückgerudert worden. Ich bin schriftlich kontaktiert worden. Ich möge mich beim ÖSV einfinden und alle Namen auf den Tisch legen. Das hab ich aber für den falschen Weg gehalten. Ich wollte sie lieber bei der Staatsanwaltschaft und der Polizei hinterlegen. Dann hat Präsident Schröcksnadel über einige sehr persönliche Kanäle versucht, mit mir ins Gespräch zu kommen. Er hat mich nicht selbst angerufen. Ich bin sehr leicht erreichbar. Er wollte von mir angerufen werden. Das habe ich aber nicht gemacht.
Wie stehen Sie zu Peter Schröcksnadel?
Egal in welchen Institutionen oder Firmenkonstellationen Männer so lange an der Macht sind, dass sie sich wirklich auch intern diese Hausmacht so abgesichert haben, ist es immer problematisch. Ich glaube, dass Menschen, die so viel Macht haben wollen und das möglicherweise für ihr Inneres brauchen, wahnsinnig schwer mit Kritik umgehen können. Ich vergleiche das immer mit der katholischen Kirche. Da ist aber wenigstens das Oberhaupt der Kirche reformwillig und aufgeschlossen. Beim Schiverband ist es eher umgekehrt. Da darf nichts nach außen dringen.
Was halten Sie von der Kommission, die der ÖSV eingesetzt hat?
Zwei Dinge habe ich von Vornherein nicht gut gefunden. Erstens, dass eine Institution sich selbst eine Überwachungskommission bestellt, um etwas in den eigenen Reihen aufzuklären. Zweitens: Frau Klasnic war einerseits die Leiterin der Kommission, aber gleichzeitig auch Ansprechperson der Meldehotline. Melden und untersuchen in einer Person? Unabhängig wie man zur Person Klasnic steht, ist das vom Prozedere her unprofessionell. Man kann auch nicht auf einem privaten Handy eine offizielle Meldehotline einrichten. Das ist dilettantisch.
Wie bewerten Sie die Ergebnisse der Kommission?
Ich habe für mich selbst akribisch jene Fälle dokumentiert, die sich bei mir gemeldet haben. Es gab dann im Juni 2018 diese Pressekonferenz. Jetzt wusste ich natürlich von ganz anderen Zahlen, von anderen Geschichten und Hintergründen. So wie in dem Fall der oberösterreichischen Athletin, die ihren Langlauftrainer schwer belastet hat, sind Meldung offenbar unter den Teppich gekehrt worden. Sie hat sich im Dezember 2017 bei der Meldestelle gemeldet. Und es ist nichts passiert. Ich habe mich bis jetzt nie zur Vorgehensweise dieser Kommission geäußert, aber Meldungen unter den Teppich zu kehren, das spricht für sich.
Wie ist Ihr Befund vom ÖSV?
Man darf den ÖSV nicht isoliert betrachten. Das ganze System Sport ist schuld. Die nationale Identität hängt in Österreich am Schifahren. Viel Wirtschaft, viel politischer Glanz hängen am Schifahren. Wenn sich dann die Minister im Zielraum von Kitzbühel und Schladming neben die Schi- Heroen stellen, diese Form von Sportpatriotismus ist eigentlich nichts Gesundes, sondern kittet etwas, wo es krankhafte Wunden und Risse im nationalen Gefüge in der Identität gibt.
Sie waren in Österreich eine Art Pionierin, was #MeToo betrifft.
Also ich war sicher nicht die Erste, die über Missbrauch gesprochen hat. Ich war nur die Erste, die wirklich gehört wurde, weil es um einen prominenten Sport gegangen ist. Betroffene sprechen schon lange darüber, sie bekommen nur wenig Gehör. Im Judo, im Schwimmen gab es immer wieder Berichte, aber sie gingen unter. Es war eher eine glückliche Fügung, dass genau in dieser Zeit, in der ich an die Öffentlichkeit gegangen bin, #MeToo zu einer Bewegung wurde. Das hätte ich nicht planen können. Was mich am meisten freut, ist, dass es jetzt immer mehr werden, die darüber reden können, was ihnen angetan wurde.
Bei Vorwürfen gegen Verstorbene wie etwa Toni Sailer wird immer argumentiert, dass sich Tote nicht mehr wehren können. Was sagen Sie dazu?
Es geht nicht um die Toten. Es geht um die Systeme, die das gedeckt haben, was sie getan haben und es immer noch decken und ermöglichen. Im Fall Sailer haben Politik, Wirtschaft und Sport zusammengespielt, um alles zu vertuschen. Man hat Toni Sailer auch der Möglichkeit beraubt, in ein ordentliches Verfahren zu gehen. Möglicherweise hätte es ihm und ganz sicher den Betroffenen sehr geholfen.
Würden Sie alles noch einmal so machen, wie in den letzten 500 Tagen?
Mir geht es sehr gut. Und ja, ich würde alles wieder genauso machen. Ich glaube, es war gut so.
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