„Es gibt keine andere Option als Frieden“
In dem seit Jahrzehnten andauernden Nahostkonflikt gibt es laute Stimmen, die sich für Frieden einsetzen. Dazu zählen Frauenorganisationen, wie die israelische NGO Women Wage Peace.
Text: Markus Schauta
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Am 4. Oktober 2023 veranstaltete die israelische NGO Women Wage Peace gemeinsam mit ihrer palästinensischen Partnerorganisation Women of the Sun einen Friedensmarsch in Jerusalem. Gemeinsam forderten die beiden Organisationen, den Teufelskreis des Blutvergießens zu stoppen und riefen Israelis, Palästinenser:innen und andere in der Region auf, ihre Unterstützung für die Lösung des Konflikts zu zeigen. Drei Tage später fand das Massaker der Hamas statt und der Krieg kam.
Im März 2022 trafen sich hunderte israelische und palästinensische Frauen der Organisationen „Women Wage Peace“ und „Women of the Sun“ am Toten Meer, um dauerhaften Frieden, Freiheit und Sicherheit für alle zu fordern.
„Wir bauen Brücken“
Women Wage Peace wurde nach dem 50-tägigen Gaza-Krieg im Jahr 2014 gegründet, zeitgleich mit ihrer palästinensischen Schwesterorganisation Women of the Sun. Heute ist die NGO mit mehr als 40.000 Mitgliedern die größte Graswurzel-Friedensbewegung in Israel. „Die meisten von uns sind Mütter“, sagt Naama Barak Wolfman, eine von drei Frauen im Führungsgremium der Organisation: „Sie kümmern sich um ihre Kinder, wollen, dass sie sicher aufwachsen und ein normales Leben führen.“ Ein Wunsch, der israelische und palästinensische Frauen verbindet. „Es ist natürlich nicht so, dass nur Frauen Mitgefühl aufbringen können, aber ich denke, dass es für sie leichter ist, diese Empathie auch zu zeigen“, so die Aktivistin.
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Vivian Silver, Mitbegründerin von Women Wage Peace,
wurde am 7. Oktober von der Hamas entführt.
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Women Wage Peace verfolgt eine offene Herangehensweise. „Wir fordern keine bestimmte Lösung für den Konflikt und sind politisch in alle Richtungen offen“, sagt Wolfman. Neben Friedensaktivistinnen vom linken Flügel seien auch Siedlerinnen aus der Westbank unter den Mitgliedern: „Jeder von uns sieht die Dinge ein wenig anders, aber wir sind alle vereint in unseren Bemühungen um Frieden und in unserem Verständnis, dass die Sicherheit – für Israelis wie für Palästinenser:innen – vom Frieden abhängt.“ Dass alle einander zuhören, ermöglicht es die jeweils andere Perspektive besser zu verstehen. „Auf diese Weise bauen wir Brücken“, so Naama Barak Wolfman. Israelische Frauen können eine Brücke zwischen der israelischen Araberin und einer Siedlerin sein. Die israelische Araberin wiederum kann Brücke sein zwischen israelischen Frauen und Palästinenser:innen.
Naama Barak Wolfman ist eine der drei Frauen im Führungsgremium der israelischen Graswurzelbewegung „Women Wage Peace“, die mittlerweile über 40.000 Mitglieder zählt.
Die einzige Option
Am 7. Oktober erhielt Wolfman die Nachricht, dass Vivian Silver, Mitbegründerin von Women Wage Peace, als vermisst gilt. Die 74-jährige lebte im Kibbuz Be‘eri, der in den frühen Morgenstunden von der Hamas angegriffen wurde. „Zuerst dachten wir, sie sei entführt und nach Gaza verschleppt worden“, so die Aktivistin. Doch vier Wochen später wurden die Überreste der kanadisch-israelischen Friedensaktivistin im Kibbuz entdeckt.
„Die Nachricht war niederschmetternd“, sagt Naama Barak Wolfman. Viele in der NGO hätten das tragische Ereignis bis heute nicht überwunden. „Wir sind sehr, sehr erschüttert von ihrem Tod.“ Trotzdem wollen sie nicht aufgeben: „Wir wissen, dass es keine andere Option als Frieden gibt.“ Der durch das Hamas-Massaker neu losgetretene Krieg hat nicht nur persönliche Verluste gebracht, er hat auch die Kooperation zwischen Women Wage Peace und Women of the Sun erschwert. „Uns war es immer wichtig, auf Schuldzuweisungen zu verzichten, wir wollten voranschreiten und nicht zurückblicken“, so Wolfman. Das sei seit dem 7. Oktober und dem darauffolgenden Gazakrieg sehr schwierig geworden. Auch seien Treffen und gemeinsame Kundgebungen wie jene Anfang Oktober zurzeit nicht möglich, weil den Palästinenserinnen die Einreise nach Israel untersagt ist. Die Kontakte sind trotzdem nicht abgerissen. Mehrmals die Woche tauschen sie sich über Telefon oder Zoom mit ihren palästinensischen Kolleginnen aus.
Frieden zu schließen, gilt als Priorität für die Aktivistinnen. Auch wenn dies momentan schwieriger denn je zu sein scheint. Doch Aufgeben ist für sie keine Option.
Kein binäres Spiel
Gefragt nach den Triebkräften des Nahostkonflikts, nennt Wolfman das gegenseitige Unwissen, dass das Bild vom jeweils anderen präge. „Ich denke, die meisten Israelis wissen nicht, was in der Westbank vor sich geht“, sagt sie. Ebenso wie viele Palästinenser:innen, die Israelis nur als Soldat:innen oder Siedler:innen kennen. Diese Unwissenheit und das Nicht-Kennen des anderen erzeuge Angst. Die Angst wiederum stehe einer Friedenslösung entgegen, so Wolfman, die das Bauen von Brücken daher als einen der wichtigsten Aspekte ihrer Friedensarbeit sieht. Mangelnde Empathie mit den Israelis oder Palästinenser:innen und ein generelles Unwissen den Nahostkonflikt betreffend, liege auch der Polarisierung in Europa zugrunde. Allzuoft werde der Konflikt in simplifizierten Mustern von Gut gegen Böse gedeutet. „Es gibt aber nicht die eine Seite, die für alles Verantwortung trägt, während die andere völlig frei von Schuld ist“, sagt Wolfman. Was kann also in Europa getan werden? Die Friedensaktivistin wünscht sich, dass die Menschen sich über den Konflikt informieren und die Grauzonen erkennen: „Anstatt sich für eine Seite stark zu machen, wäre es besser, sich für Frieden einzusetzen.“
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„Ich denke, die meisten Israelis wissen nicht,
was in der Westbank vor sich geht“
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Gleichzeitig wäre es wichtig, die Aufmerksamkeit nicht den Hardlinern zu widmen, sondern den Friedenslagern in Israel und Palästina. „Wir und unsere Schwesterorganisation können gerade jetzt jede Unterstützung brauchen“, sagt die Aktivistin. Etwa, indem man sie nach Europa einlädt, damit sie vor Publikum sprechen können oder ihre Petition „Mothers‘ Call“ unterschreibt, in der sie für Frieden, Freiheit und gleiche Rechte für Israelis wie Palästinenser:innen aufrufen. „Der Nahostkonflikt ist kein binäres Spiel“, sagt Wolfman.
Angst stehe Friedenslösungen entgegen, meint Wolfmann. Daher sei das Bauen von Brücken essenziell für die Friedensarbeit.
Gemanagt, nicht gelöst
Seit Jahrzehnten beschießt die Hamas Israel mit Raketen. In der Westbank rauben israelische Regierungen mithilfe der Siedler:innen den Palästinenser:innen mehr und mehr Land. Es ist ein Auf und Ab der Spannungen mit regelmäßigen Eskalationen. „Dieser Konflikt wird seit Jahrzehnten nur gemanagt, aber nicht gelöst“, meint die Aktivistin. Wolfman hofft, dass das Massaker vom 7. Oktober und der Krieg in Gaza spätestens jetzt zu einem Umdenken führen: „Es kann nicht so weitergehen wie bisher und ein Großteil der Menschen versteht das“.
Das Problem sei, dass es durchaus unterschiedliche Vorstellungen gebe, wie eine Lösung des Konflikts aussehen könnte. So hat Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mehrmals betont, dass er eine Zweistaatenlösung ablehne. Stattdessen plant er, alle Gebiete westlich des Flusses Jordan unter die Kontrolle der israelischen Streitkräfte zu bringen. Die UNO, die USA und zusehends auch die EU drängen Netanjahu jedoch zu einer Zweistaatenlösung. Women Wage Peace setzt sich für keine konkrete Lösung ein. Sie seien für jede Art Lösung offen, solange sie friedlich und gewaltfrei ausgehandelt werde, so Wolfman. Derzeit sei die weltweite Aufmerksamkeit hoch – eine gute Voraussetzung, dass sich etwas bewegt. Sowohl die USA und Europa als auch arabische Staaten wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten und Jordanien zeigen sich interessiert, Lösungen zu finden. „Diese Chance darf nicht verpasst werden. Women Wage Peace setzt sich dafür ein“, sagt Naama Barak Wolfman abschließend.
Markus Schauta berichtet seit 2011 als freier Journalist aus dem Nahen Osten. Seine Artikel erscheinen u. a. in Der Standard, Die Furche und der Wiener Zeitung. Im Dezember 2015 erhielt er für seine Reportage „Kairos kleine Freiheiten“ den Dr. Karl Renner-Publizistikpreis
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