Es ist nicht genug, gegen Rassismus zu sein, wenn du gegen Rassismus bist
Autor Jad Turman schreibt eine kurze Geschichte des Rassismus. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Essay: Jad Turman
Als ich noch in Syrien war und zur Mehrheit gehören durfte, stellte ich meine Privilegien nie in Frage und wusste nicht viel über Rassismus. Doch als ich nach Österreich kam, begann ich, mich durch die eigene Betroffenheit intensiv damit zu befassen. Aber ich merkte, dass darüber zu reden bei einigen FreundInnen auf Abneigung stieß. Denn Rassismus existiert aus der Sicht vieler Menschen nicht mehr, und wenn, dann sind es nur vereinzelt grausame Verbrecher, die rassistisch handeln, und wir haben damit nichts zu tun. Daher hätte ich mich, ohne die aktuellen Ereignisse, diesen Beitrag nicht zu schreiben getraut. Ich muss auch ehrlich gestehen, dass ich früher selbst ähnlich gedacht habe. Ich erinnere mich mit Schmerz und Reue an eine meiner Mitschülerinnen in der ersten Klasse, die aus Somalia stammte. Meine Mitschüler und ich haben immer wieder vor ihr ein „Schokolade-Lied“ gesungen ... Dafür schäme ich mich. Ich wünschte, ich könnte mich bei ihr entschuldigen ...
Nun möchte ich euch eine kleine Geschichte über den Rassismus erzählen: In Südafrika lebte im Jahr 1971 das damals noch unverheiratete Paar Mr. Whitley & Mrs. Sherin. Er ist weiß und sie dunkelhäutig mit indischen Wurzeln. In Südafrika des Jahres 1971 hätten die beiden im Falle einer Heirat gegen drei grundlegende Gesetze des Landes verstoßen: So war die Ehe zwischen verschiedenen „Rassen“, außerehelicher Sex mit anderen „Rassen“ und das Wohnen von Menschen bestimmter „Rasse“ in anderen Gebieten als in denen, die für sie bestimmt waren, verboten. Das war noch nicht Nelson Mandelas Südafrika, sondern ein Südafrika der Apartheid und der Rassentheorie. Mitte der siebziger Jahre flohen die beiden nach Botswana und heirateten dort. Danach wanderten sie nach Norwegen aus und landeten letztlich in Liverpool. Weil sie den Traum, in ihre Heimat zurückzukehren, nicht aufgeben wollten, schickte Mr. Whitley 1981 einen Brief an den Premierminister Südafrikas, Peter Willem Botha, indem er ihn bat, seine „Rasse“ neu klassifizieren zu lassen. Mr. Whitley wollte seine Einstufung trotz seiner Hautfarbe und seines Namens ändern lassen und als „Non-White“ gelten. Sein Antrag wurde akzeptiert und das Paar kehrte nach Südafrika zurück. So absurd diese Geschichte auch erscheinen mag, noch erschreckender ist, dass sie sich erst vor 39 Jahren ereignet hat. Wie ist dieses abscheuliche System zustande gekommen?
Kolonialismus und Rassismus
In seinem Buch “Postcolonial Studies” erklärt Bill Ashcroft 2005, wie stark die Rassentheorie mit der Tendenz der westlichen Länder nach Expansion zusammenhängt, und wie groß der Drang bei diesen mächtigen Ländern war, ihre ethische Überlegenheit bei den kolonialisierten Ländern durchzusetzen - primär durch den sogenannten Binarismus, der auf der folgenden Dualität beruht: „Ich bin zivilisiert und du bist primitiv. Und deswegen kam ich, um dich zu belehren und zu zivilisieren. Es ist eine schwere Aufgabe für mich, aber möge Gott mir dabei helfen.” Mit der Zeit wurde der Bedarf immer größer, diese fragile Vorgehensweise zu stützen. Denn die mörderische Art und Weise der Kolonialherren, wie sie ausbeuteten und versklavten, stand in Widerspruch zu ihren moralischen und ethischen Überlegenheitsbehauptungen. So entstand eine kognitive Dissonanz und es musste eine Lösung her. Und damit wurde die Idee der Rassentheorie geboren. Die Überlegenen sahen sich gezwungen, eine Pyramide der menschlichen „Rassen“ zu erfinden, und natürlich stand an deren Spitze der arme weiße Mann, der auf seinen Schultern die Erlösung der Menschheit trägt.
Und so entwickelten sich im 17. Jahrhundert unzählige Theorien und Konzepte über die angeblichen „Rassen“, eine nach der anderen wurde veröffentlicht. Auch der berühmte schottische Philosoph David Hume, der 1776 starb, schrieb in seinem Buch „National Characters“: “Ich tendiere dazu zu glauben, dass die Neger generell und alle anderen Menschenrassen von Natur aus den Weißen unterlegen sind.” Ich werde einige aufzählen, auch wenn sie dasselbe Narrativ beinhalten. Im Jahr 1805 erklärte der französische Wissenschaftler Georges Cuvier als Erster die drei „Rassen“: weiß, schwarz und gelb, und deren Unterschiede.
Mediziner Karl Ernst von Baer und seine „unter-schiedlichen Prinzipien der Menschenrassen.“
Im Jahr 1853 erschien das einflussreiche Buch, das im Bereich der Rassentheorie bei weitem gefährlicher war als alle anderen. Ein Buch, das Richard Wagner, Friedrich Nietzsche und Adolf Hitler begeisterte. Das Buch “The Inequality of Human Races” von dem französischen Diplomaten Arthur de Gobineau. Gobineau war der Meinung, dass die Weißen entwickelter und schöner als die Schwarzen und die Asiaten wären. Das war ihm aber nicht genug. Er teilte jede „Rasse“ in weitere Kategorien ein. Das heißt, wenn du weiß bist, muss es nicht automatisch sein, dass du an der Spitze der Pyramide bist. Es gibt einen Weißen und einen Weißeren. Der Arier ist natürlich an der Spitze, aber, was für ein Zufall, er und alle anderen, die darüber schrieben, klassifizierten sich als Arier. Der Literat Rudyard Kipling (bekannt durch „Das Dschungelbuch“, 1894) vertrat die These von der „Bürde des weißen Mannes” und von seiner Bestimmung, die Völker der Erde zu erleuchten und zu zivilisieren.
Der deutsche Biologe Alfred Ploetz prägte 1895 den Begriff Rassenhygiene und meinte: „Der Unterschied der Intelligenz zwischen einem Weißen und einem Schwarzen ist genau derselbe wie zwischen dem Schwarzen und einem Gorilla.” Auch der amerikanische Schriftsteller Mark Twain, der für seine Werke „Die Abenteuer des Tom Sawyer“ und „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ bekannt ist, sagte in einer Rede im Dezember im Jahr 1867: „Entweder bringen wir sie alle um oder wir geben ihnen Seife und Bildung. Denn wenn wir Indianer ausbilden und waschen, werden sie automatisch aussterben.“ Die Sache mit der Seife kam bis ins 21. Jahrhundert. Vor drei Jahren machte die Kosmetikfirma Dove eine Werbung über ein Produkt, das „die Hautfarbe mit jeder Anwendung von schwarz zu weiß macht.“
Apropos Seife und Amerika: Die US-amerikanischen Soldaten hatten im Zweiten Weltkrieg, in dem sie Europa von den Nazis befreien wollten, getrennte Badezimmer für Weiße und Schwarze. Auch die Blutbank war dementsprechend getrennt. Denn es ging in diesem Konflikt hauptsächlich ums Blut. Nicht nur das: die ganze US-Armee war in Einheiten für weiße und schwarze Soldaten geteilt, die getrennt ihren Dienst versahen, getrennte Unterkünfte hatten und meist auch getrennt in den Kampf zogen. Erst 1948 hat der US-Präsident Harry Truman die US-Armee „de-segregiert“. Im Korea-Krieg durften dann weiße und schwarze Soldaten schon gemeinsam im Schützengraben liegen und nebeneinander sterben.
Wenn wir das Bild des Rassismus vom 18. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts zusammenfassen, ergibt sich ein roter Faden des wissenschaftlichen Rassismus, “Scientific racism”, der die Sprache und die Wissenschaft ausnutzt, um die Menschen durch körperliche, optische, aber auch kulturelle und traditionelle Unterschiede in „Rassen“ aufteilen zu können, und diese Unterschiede als natürliche Legitimation für die Über- und Unterlegenheit der einzelnen Gruppen festsetzt. Natürlich gab es Denker und Wissenschaftler, die diesen Theorien widersprachen, aber sie waren in der Minderheit und fanden wenig Gehör. Franz Boas vertrat im Jahr 1911 in seinem Buch „The Mind of Primitive Man“, die Meinung, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Rasse, Kultur und der Sprache gibt. Es gebe auch keinen Unterschied zwischen den Gehirnen der so genannten „Primitiven“ und der „Zivilisierten“. Es gebe überhaupt gar keine reinen „Rassen“.
Diese und ähnliche Stimmen gegen die gängigen Rassentheorien wirkten aber meist kontraproduktiv und konnten die Massaker nicht stoppen. Der wissenschaftliche Rassismus sah sich genötigt, einen weiteren Schritt zu gehen. Das Ergebnis war die hässlichste Union, die die Menschheit jemals erlebt hatte: Die Vereinigung zwischen dem Rassismus, der Biomedizin und dem Nationalsozialismus. In Deutschland begann nach den USA und einigen anderen europäischen Ländern die Zeit der Zwangssterilisationen. Das 1920 erschienene Buch „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von Alfred Hoche und Karl Binding war für die Nazis wie ein Kompass. Es verschaffte ihnen laut John Cornwell, der das Buch „Hitler’s Scientists“ schrieb, ein ruhiges Gewissen, Tausende von „lebensunwerten“ Menschen zu ermorden. So gesehen war der Nationalsozialismus keine Abweichung von den europäischen Werten, sondern die nachvollziehbare Folge einer tiefverwurzelten Ideologie von Diskriminierung, Überheblichkeit und Vernichtung.
Eine Karte aus Nazi-Deutschland, die die Nürnberger Rassegesetze von 1935 erklärt.
Leider sind die Auswirkungen der langen Tradition des Rassismus bis zum heutigen Tag in verschiedenen Facetten unseres Lebens zu sehen. Unsere Gesellschaft ist davon auf mehreren Ebenen stark geprägt. In Filmen und Werbungen. In Schulen und Universitäten. Im Vorstellungsgespräch und bei der Partnersuche. Auch im Sport, so zum Beispiel als die Fußballspieler Samuel Eto und Didier Drogba während eines Spiels mit Bananen beworfen wurden und die Fans Affengeräusche nachahmten. Rassismus hat viele Gesichter: Fremdenfeindlichkeit, Homophobie, Antisemitismus, Chauvinismus oder Islampohobie. Er kann sogar so hasserfüllt sein, dass er einen Mann dazu motiviert, mit einer Kamera und einer Waffe in zwei Moscheen in Neuseeland einzudringen, kaltblütig 51 Menschen niederzuschießen und dies live auf Facebook zu senden. Oder, dass er einen Polizisten dazu bringt, einen verdächtigen schwarzen Mann, der bereits gefesselt auf dem Boden liegt, mit dem Knie auf seinem Nacken mit seinem ganzen Gewicht minutenlang zu fixieren, bis er stirbt.
Rassismus lebt nicht per se von der Hautfarbe, sondern von „Othering“. Der Begriff Othering kann übersetzt werden mit „jemanden zum Anderen machen“. Es braucht immer die „Anderen”, um auf sie alle Defizite, negativen Eigenschaften und Hass projizieren zu können. Rassismus ist kein Monopol der Weißen. Jeder weist auf die eine oder andere Weise rassistische Denkmuster gegenüber bestimmten Menschen auf. Vor einer Woche war ich mit einem schwarzen Freund in einem Restaurant zum Abendessen. Die Kellnerin hörte unser Gespräch und sagte beim Vorbeigehen: „Ich bin auch schwarz“ und ging weiter. Wir haben nicht verstanden, was sie meinte. Nach einigen Sekunden kehrte sie zurück und setzte sich zu uns. „Als ich vor Jahren aus Hamburg mit meiner Tochter hierhergezogen bin, ging meine Tochter in die zweite Klasse. Am ersten Tag fand sie nach einer Pause in ihrem Heft die erste Willkommensnachricht: „Scheiß Deutsche ...”, erzählte sie uns, warum sie auch schwarz ist, obwohl sie und ihre Tochter blond und blauäugig sind. Rassismus existiert und es ist kein Problem der Rechtsextremen, sondern ein gesellschaftliches, alltägliches Problem, das einer nüchternen institutionellen Auseinandersetzung bedarf. Manchmal handeln wir rassistisch, ohne es zu wissen oder zu wollen, und manchmal meinen wir es gut, aber wir treten ins Fettnäpfchen. Doch Unwissenheit schützt uns nicht davor, jemanden zu verletzen.
Vor drei Monaten hatte ich einen Zahnarzttermin in einer sehr intensiven Zeit meines Lebens. Ich hatte mehr als sechs Auftritte pro Woche. Manchmal hatte ich Veranstaltungen an zwei verschiedenen Orten am selben Tag. Pünktlich bin ich bei dem Termin erschienen. Erschöpft lag ich auf dem Behandlungsstuhl, versuchte mich zu entspannen und die wacklige Füllung in meinem Zahn mit der Zunge zu fixieren. Nach einigen Minuten kam die Zahnärztin eilig auf mich zu. „Na, wie geht`s?“, gab sie mir lächelnd die Hand. Routiniert wechselte sie die zerfallene alte weiße Füllung aus, ging zum Computer und machte mir Vorschläge für den nächsten Termin. Ich nahm währenddessen einen kleinen Spiegel und versuchte, die neue Füllung zu sehen. Und Bumm: Überraschung! Eine graue Füllung aus Amalgam steckte in meinem Zahn. Ich war irritiert und wusste nicht, was ich sagen soll. Ich begann, mir Ausreden auszudenken. Vielleicht war das nur vorrübergehend - eine provisorische Füllung. Aus irgendeinem Grund traute ich mich nicht zu fragen. Am Abend traf ich zufällig vor dem Haus eine Freundin, die vor ihrer Karenz als Zahnarztgehilfin gearbeitet hatte. Als ich ihr von dem Termin am Morgen erzählte, sagte sie: „Oje, das haben wir normalerweise nur den Bauern gegeben. Aber seit Jahren verwenden wir diese Füllung nicht mehr. Sie hätte dich fragen sollen.” Ich fühlte Knoten im Bauch, und mein Kopf begann sich die verschiedenen Szenarien auszudenken, warum sie das gemacht hatte. Weil ich Flüchtling bin? Am nächsten Abend musste ich nach Bad Ischl zu mehreren Terminen fahren. Aber so konnte ich nicht auftreten und einfach lustig sein. Jedes Mal, wenn ich den Amalgamgeschmack wahrnahm, stieg die Wut in mir hoch. In der Früh rief ich sie an, wusste jedoch nicht, was ich sagen soll. „Es hat mich traurig gemacht“, sagte ich, ohne zu überlegen. „Ich werde Sie schon gefragt haben”, konterte sie. Ich versicherte ihr, dass ich nicht gefragt worden war, und schwieg eine Weile. Letztendlich gab sie mir einen Termin, sodass ich von Bad Ischl direkt zu ihr fahren durfte. An diesem Tag empfing sie mich mit einem großen Lächeln, und sie wirkte weniger gestresst und schaute mir länger in die Augen. „Es tut mir leid, ich wollte Ihnen die Kosten der teuren Füllung ersparen. Sie haben bereits bei einem anderen Zahn eine Amalgamfüllung, daher nahm ich an, es sei in Ordnung”, sagte sie mir in ehrlichem Ton und begann die Füllung zu wechseln. Am Ende gab sie mir einen neuen Termin, um die alte Amalgamfüllung, die ich 2009 beim Militär bekommen hatte, zu wechseln. Erleichtert und erlöst hatte ich das Bedürfnis, an der Salzach entlang spazieren zu gehen ...
Es ist für niemanden mehr ein Geheimnis, dass wir unserem Schubladendenken oft ausgeliefert sind, aber das ist keine Rechtfertigung. Wir können darauf Einfluss nehmen und die Schubladen neu sortieren oder aus ihnen einen großen Schrank machen. Natürlich ist das kein einfacher Prozess, denn er ist oft von Schuld und Schamgefühlen begleitet, und diese Gefühle führen meist zu Verdrängung und Tabuisierung von Rassismus. Das ist gefährlich, denn Rassismus wird nie von selbst verschwinden, wenn wir ihm nicht ihn die Augen schauen und ihn benennen. Im Gegenteil. Er umhüllt sich immer wieder mit neuen Mustern und Gesichtern. Die deutsche Rock-Band Die Ärzte drückt das in einem Lied so aus: “Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist, es wär‘ nur deine Schuld, wenn sie so bleibt.”
Es ist nicht genug, gegen Rassismus zu sein, wenn du gegen Rassismus bist.
Jad Turjman, 1989 in Damaskus geboren, studierte englischsprachige Literatur an der Universität. Als er 2014 einen Einberufungsbefehl erhielt, entschied er sich mit dem Rückhalt seiner Familie zur Flucht. Darüber kann in seiner Autobiographie „Wenn der Jasmin auswandert“ (2019) gelesen werden. In Österreich hat er drei Jahre als Asylbetreuer beim Samariterbund gearbeitet. Seit 2018 ist er Gruppenleiter bei dem Projekt „Heroes“.
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