"Es wird ein böses Erwachen geben."
Die Armutsexpertin Michaela Moser sieht in den Kürzungsplänen der Regierung bei der Mindestsicherung und bei arbeitsmarktpolitischen Projekten eine Verelendungs-strategie. Interview: Eva Maria Bachinger, Fotos: Karin Wasner
Der Wiener Stadtrat Peter Hacker hat zu den geplanten Änderungen bei der Mindestsicherung in Richtung Regierung gemeint: ‚Denn sie wissen nicht, was sie tun‘. Ist das so?
Das glaube ich nicht. Ich denke, sie wissen sehr genau was sie tun. Die Änderung der Mindestsicherung ist ja nur Teil eines größeren Projekts. Dabei werden systematisch die Hauptbestandteile wirksamer Armutsbekämpfung zerstört, wie sie europaweit als Standard gelten. Im Rahmen der EU-2020-Strategie wurden auf Kommissions- und Ratsebene diese drei Säulen beschlossen: existenzsicherndes Einkommen aus Arbeit oder Sozialleistung, soziale Güter und Dienstleistungen und Arbeitsmarktintegration. Auf allen drei Ebenen versucht die Regierung diametral dagegen zu arbeiten, denn es wird ja auch die Streichung von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und Fördergeldern für Beratungsstellen umgesetzt. Das ist eine Politik, die Armut produziert. Das ist eine Verelendungsstrategie.
Warum macht die Regierung das?
Offenbar werden die Interessen der reichsten fünf Prozent und der Industriellenvereinigung bedient. Alles, was in Österreich relativ gut zur sozialen Gerechtigkeit beiträgt, soll unterlaufen werden. Ich finde das schwer zu verstehen. Abgesehen von ideologischen Weltanschauungen: Wie können vernünftig denkende Menschen solche Entscheidungen treffen? Man weiß aus vielen Studien, dass so ein Programm einen Staat nicht voranbringt, sondern zur Verelendung führt. Eine soziale Spaltung, die Gefährdung des sozialen Friedens kann nicht im Interesse eines Landes sein. Aber man will sich offenbar über alles hinwegsetzen: über Fakten, über die Vereinbarungen auf EU-Ebene, über verfassungsrechtliche Bedenken. Es geht hier nicht um Vernunft, sondern um machtpolitische Überlegungen.
Im Mittelpunkt der Debatte steht die Mindestsicherung, weniger die Kürzungen bei arbeitsmarktpolitischen Projekten.
Mit der Mindestsicherung lässt sich am besten die dominierende rassistische Propaganda verbinden. Bei der Kürzung der arbeitsmarktpolitischen Programme wird das schon schwieriger werden. Es ist paradox: Einerseits wird die soziale Grundsicherung gekürzt, weil die Leute sonst angeblich in der „sozialen Hängematte“ liegen, andererseits will man auch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen streichen, die Menschen helfen sollen, wieder Arbeit zu finden. Dabei gerät auch aus dem Blick, dass die Mindestsicherung ja nur das unterste Auffangnetz und keine Lebensperspektive sein soll. Und es geht immer auch um die Frage, wie man aus der Mindestsicherung wieder herauskommt? Man kann über die Sinnhaftigkeit vieler arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen streiten, aber es gibt auch viele gute Projekte. Sinnvoll wäre es, wenn Betroffene mehr in die Gestaltung dieser Programme einbezogen würden. Da wird viel Kompetenz, Wissen und Erfahrung von Menschen verschleudert.
Wie schätzen Sie die Stimmung in der Bevölkerung ein? Offenbar gibt es eine Mehrheit für solche Maßnahmen.
Die Mehrheit erreicht die Regierung durch das ausländerfeindliche Gerede, denn die ÖsterreicherInnen wählen traditionell rechts, wenn es um Ausländer geht; wenn es um soziale Maßnahmen geht, stehen sie eher links. Das Wahlklientel der Regierung stammt allerdings nicht nur aus den obersten Schichten, sondern auch aus den mittleren und unteren. Und diese Menschen wird das treffen. Viele sehen es noch nicht, weil der Fokus auf die Mindestsicherung gelegt wird und sie meinen, das habe nichts mit ihnen zu tun. Sie verkennen, wie schnell es passieren kann, dass man nach längerer Arbeitslosigkeit oder Krankheit oder psychischer Probleme auf Mindestsicherung angewiesen ist. Das wird verdrängt, denn die Armen sind immer die Anderen. Ein Großteil der ÖsterreicherInnen ist zudem ein relativ gutes Sozialsystem gewöhnt. Es ist ihnen nicht klar, was diese Kürzungen bedeuten, was es dann nicht mehr gibt. Es wird ein böses Erwachen geben. Man sieht in anderen Ländern was Kürzungen bedeuten. In Großbritannien gibt es bereits Kampagnen gegen Hunger im Land! Ich habe also den Eindruck, dass viele WählerInnen nicht wissen, was sie tun.
Was kann man dem entgegenhalten?
Es wird schwer, aber es muss gelingen, den Bildern, die diese Regierung zeichnet, die Faulen mit den vielen Kindern, die Ausländer, die nur kommen um unsere Sozialleistungen abzugrasen, die Realität gegenüber zu stellen. Es ist sehr konstruiert zu meinen, dass Menschen aus einem Kriegsgebiet sich denken, jetzt schlagen wir uns nach Österreich durch, weil dort bekommen wir eine Mindestsicherung oder dass sich Menschen überlegen, wir bekommen jetzt sechs Kinder und dann beziehen wir eine hohe Mindestsicherung. Tatsächlich betroffen sind vor allem Leute, die es alles andere als leicht haben, die meisten sind alt, haben physische, psychische Krankheiten, Behinderungen und sonstige schwierige Lebensumstände, viele sind Kinder.
Ich hoffe, dass man mit einer Politik, die letztlich auch Kinder trifft, auf Dauer nicht die Mehrheit überzeugen kann. Aber sicher bin ich mir nicht. Denn die falschen Bilder halten sich hartnäckig und sind wirkungsvoll. Leider gibt es derzeit auch keine ProtagonistInnen auf politischer Ebene, die glaubwürdig eine Armutsbekämpfung vertreten. Die Opposition ist mit sich selbst beschäftigt.
Es ist aber auch eine Tatsache, dass nur bestimmte EU-Länder mit starken sozialen Leistungen wie Schweden oder Österreich von Flüchtlingen und MigrantInnen anvisiert werden, dass für Menschen aus armen Ländern einige hundert Euro im Monat ein kleines Vermögen sind.
Wer auswandert, hat das Motiv sein Leben zu verbessern. Das ist legitim. Sonst forciert man solches Leistungsdenken, aber hier gilt es plötzlich nicht mehr. MigrantInnen nehmen viel auf sich um ihr Leben zu verbessern. Wir profitieren auch stark von MigrantInnen, die bei uns arbeiten. Und es geht um Differenzierung zwischen Flucht und Asyl und den damit verbundenen Rechten, auch um Migration aus beispielsweise wirtschaftlichen Gründen. Das gilt derzeit aber fast als Verbrechen. Dabei ist es ein verständlicher menschlicher Impuls, dass man wo hingeht, wo man glaubt, sich ein besseres Leben aufbauen zu können. Auch viele EuropäerInnen haben das gemacht. Ich verstehe nicht, was daran schlimm sein soll, zumal
MigrantInnen ohne Asylstatus ohnehin nicht automatisch Zugang zu Sozialleistungen wie der Mindestsicherung haben, was in der Debatte auch verschwiegen wird.
Wäre es sinnvoll die Mindestsicherung für junge, gesunde Leute nicht zu kürzen, sondern zeitlich zu befristen?
Personen, die perspektivenlos oder auch in einer Verweigerungshaltung sind, dahingehend Druck zu machen, verstärkt ihre soziale Notlage. Sie werden dann eher krank, depressiv oder obdachlos, das zeigen Erfahrungen aus anderen Ländern. Es ist ein Kurzschluss zu glauben, wenn sie kein Geld mehr haben, dann werden sie arbeiten gehen. Man muss in Programme investieren, die Menschen dabei unterstützen wieder etwas zu tun. Manche werden es dennoch nicht schaffen. Ich glaube aber, dass eine reiche Gesellschaft wie unsere es aushält, eine gewisse Anzahl mitzutragen. Schon möglich, dass da auch einzelne dabei sind, die von außen gesehen vielleicht faul wirken. Auch wenn viele „so jemanden kennen“, Studien zeigen, dass es sich um Einzelfälle handelt und es wird oft auch nicht gesehen, was wirklich dahintersteckt. Jemand, der Depressionen hat oder traumatisiert ist, trägt das meist nicht vor sich her und mag auf andere einen unwilligen Eindruck machen. Letztlich ist das natürlich auch eine Frage des Menschenbildes. Ich glaube, dass fast alle Menschen auf die eine oder andere Weise tätig sein und etwas zur Gesellschaft beitragen wollen und es dort, wo diese verloren ist, gilt ihre innere Motivation zu wecken, genauer hinzuschauen, was dahintersteckt, welche Interessen es gibt, was getan werden kann.
Bei Hartz IV in Deutschland wird argumentiert, dass dadurch mehr Menschen in Beschäftigung gekommen sind.
Man muss sich diese Beschäftigungsverhältnisse genauer ansehen, und auch zu welchen Verdrängungsmechanismen am Arbeitsmarkt das führt. Natürlich geht es darum Menschen die Möglichkeit zu geben tätig zu sein. Und zwar in sinnvoller Weise, nicht nur für die Individuen, sondern für die Gesellschaft insgesamt. Grundsätzlich muss man sich aber auch fragen, was verstehen wir unter „Arbeit“? Wie kommt man dazu, eine Familie mit mehreren Kindern
als faul hinzustellen? Zumindest eine Person, meistens die Mutter, hat wohl alle Hände voll zu tun. Es ist perfide, wie solche Bilder und Thesen gesetzt werden, welches Leistungsdenken damit transportiert wird. Und es wird ohnehin nie konsequent durchgezogen. Das sieht man am Thema Vermögen. Die Leistung einer Erbin, die vom Vermögen der Generationen vor ihr profitiert, ist überschaubar, wird aber nicht thematisiert. In vielen Fällen ist die Mindestsicherung auch eine Ergänzungsleistung zu niedrigen Löhnen. Wenn man also Vergleiche anstellt, dass eine Familie mit mehreren Kindern so viel mehr Geld aus Sozialleistungen bekommen würde als jemand, der arbeitet, muss man auch mal fragen, wieso Menschen so wenig verdienen. Die Löhne sind in vielen Bereichen viel zu gering. Es wäre wünschenswert, dass Löhne ausreichen, die eigene Familie zu ernähren und niemand zusätzlich zum Sozialamt gehen muss.
Gibt es eine Gesprächsbasis der Armuts-konferenz mit der Regierung? Wird Ihnen zugehört?
Ja, es gab einen Termin mit der Sozialministerin. Wenn man sie an ihren Taten misst, merkt man jedoch, dass wir nicht gehört werden. Wir bemühen uns auch schon lange, dass EntscheidungsträgerInnen auch direkt mit Betroffenen reden. Sie haben oft so wenig Ahnung. Wer 10.000 Euro oder mehr im Monat verdient, scheint sich nicht – mehr – vorstellen zu können, was es bedeutet mit einem Minimum zu leben. Dabei gäbe es dazu auch Zahlen. Die Haushaltsbudgets der Schuldnerberatung beispielsweise, wo alle nötigen Posten für ein einfaches, aber würdiges Leben mit Teilhabemöglichkeit in Österreich aufgelistet sind und die nach einer international anerkannten Methode berechnet werden, sollten PolitikerInnen eigentlich kennen. Wenn man das Beispiel des ÖVP-Klubchefs August Wöginger anschaut, wonach eine Familie mit sechs Kindern bis zu 3.000 Euro Mindestsicherung bekommen würde, was ohnehin nur auf ganz wenige Personen zutrifft, dann klingt das nach viel Geld, nach mehr Geld als viele verdienen. Aber wenn man, wie in den Referenzbudgets, genau nachrechnet, kommt man bereits für eine Familie mit drei Kindern auf 4.000 Euro Kosten pro Monat. Man muss genau hinschauen, wie viel das Leben in Österreich kostet und wie viele den Großteil des Geldes allein für die Miete brauchen. Darüber wird aber nicht geredet, denn dann müsste man die Wohnpolitik ändern. Und man muss auch überlegen, was Teilhabe bedeutet. Dass es nicht nur um nacktes Überleben geht, dass Sozialleistungen Menschen, vor allem Kindern, die Chance geben sollen, so am Leben teilzunehmen, dass sie nicht „hinten“ bleiben, sich gut entwickeln können. Dazu gehört auch ein zumindest minimaler Zugang zu Information, zu Kommunikationsmitteln, zu sozialem und kulturellem Leben.
Eva Maria Bachinger, geboren 1973, nach Auslandsaufenthalten in Israel und Italien arbeitet sie in Wien als Journalistin und Autorin. Buchveröffentlichungen, u.a.: „Die Integrationslüge“ (2012), „Wert und Würde – ein Zwischenruf“ (2016), jeweils gemeinsam mit Martin Schenk.
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