
Sozialhilfe: „Fair“ und „gerecht“?
Die umstrittene Novelle zur „Mindestsicherung Neu“ bringt teils drastische Kürzungen für die Betroffenen. Fünf exemplarische Beispiele belegen das. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Zusammengestellt von: Magdalena Stern, Illustration: P.M. Hoffmann
Geht es nach Bundeskanzler Sebastian Kurz, dann soll die Vereinheitlichung der Mindestsicherung „mehr Fairness und Gerechtigkeit“ bringen. Die Rede ist von „Anreizen“ die deutsche Sprache zu erlernen und davon, junge Menschen zu „motivieren, in den Arbeitsmarkt einzusteigen“. Da ist sie wieder, die positive Rhetorik, mit der die Bundesregierung ihre Vorhaben so gerne präsentiert. Tatsächlich kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Novelle teils drastische Kürzungen für Betroffene bringt. Wien hat deshalb bereits angekündigt, das Gesetz nicht nachzuvollziehen. Kurz’ Replik Richtung Wien machte medial die Runde: „Ich glaube nicht, dass es eine gute Entwicklung ist, wenn immer weniger Menschen in der Früh aufstehen, um zu arbeiten, und in immer mehr Familien nur mehr die Kinder in der Früh aufstehen, um zur Schule zu gehen.” Hans Rauscher kommentierte im Standard: „Dazu gäbe es einiges an Sachlichem zu sagen (zum Beispiel dass ein Teil der Mindestsicherungsbezieher sehr wohl arbeitet, aber wegen des geringen Verdienstes oder Arbeitslosengeldes die Hilfe als sogenannte „Aufstocker“ bezieht; oder dass ein Drittel Kinder sind).“ Auffällig ist, dass die Regierungspartner im Gesetzesentwurf nunmehr von „Sozialhilfe“ und nicht mehr von Mindestsicherung sprechen. Die Novelle orientiert sich am Netto-Ausgleichszulagenrichtsatz von aktuell 885,47 Euro, das ist auch der höchste Betrag, den Einzelpersonen erhalten können. Dass die Begriffe „fair“ und „gerecht“ relativ sind, zeigt sich daran, dass es für Familien mit mehreren Kindern oder für Menschen mit fehlendem Bildungsabschluss bzw. Deutschkenntnissen unter Fremdsprachenmaturaniveau teils deutliche Kürzungen geben wird. Betroffen sind zehntausende Frauen, Männer und vor allem Kinder, die auf soziale Unterstützung angewiesen sind. Einer der zentralen Kritikpunkte ist, dass mit der Novelle Mindestbeträge abgeschafft werden. Kern der 2010 beschlossenen Mindestsicherung waren bundesweit einheitliche soziale Mindeststandards. Sie sollten den Betroffenen ein Minimum an Menschenwürde gewährleisten und die finanziell Schwächsten absichern. Im vorliegenden Gesetzesentwurf sind diese Minimumstandards verschwunden. Festgelegt sind nur noch Höchstsätze, die nicht überschritten werden dürfen. Nach unten hin ist die „Sozialhilfe“ demgegenüber offen. Ein Kürzungswettbewerb zwischen den Bundesländern ist damit jederzeit möglich. Weitere Unsicherheiten werden durch diverse Kann-Bestimmungen im Gesetz geschaffen, die den Bundesländern begrenzte Aufschläge ermöglichen, aber nicht zwingend vorschreiben.
Wir zeigen im Folgenden fünf Beispiele, welche Kürzungen die Novelle in diesen exemplarischen Fällen mit sich bringt.
BEISPIEL 1 Eine Familie mit vier Kindern in Vorarlberg:
BISHER
Eine Familie mit vier Kindern bekommt bisher in Vorarlberg 1.689,78 Euro Lebensunterhalt (Geldleistungen) plus maximal 772 Euro Wohnkosten in Sachleistungen. So kommt eine Vorarlberger Familie mit vier Kindern derzeit auf maximal 2.461,78 Euro Mindestsicherungsleistung im Monat.
NEU (mit Pflichtschulabschluss/Deutschkenntnissen) Eine Familie mit vier Kindern, mit Pflichtschulabschluss bzw. ausreichenden Deutschkenntnissen, würde nach der neuen Regelung nur noch 1.186,53 Euro Lebensunterhalt (Geldleistungen) + maximal 495,86 Euro Wohnkosten (Sachleistungen) + maximal 504,72 Euro Wohnkostenzuschuss erhalten (falls das Bundesland einen solchen Zuschuss vorsieht). So würde die betreffende Vorarlberger Familie im besten Fall monatlich auf maximal 2.187,11 Euro kommen, ein Verlust von 274,67 Euro pro Monat.
NEU (ohne Pflichtschulabschluss/Deutschkenntnissen) Einer Familie mit vier Kindern, ohne Pflichtschulabschluss bzw. ohne ausreichenden Deutschkenntnissen, würden nach der neuen Regelung 35 Prozent „Arbeitsqualifizierungsbonus“ abgezogen. Sie würde insgesamt also 1.093,55 Euro bekommen sowie maximal 328,07 Euro Wohnkostenzuschuss (falls das Bundesland einen solchen Zuschuss vorsieht). Das ergibt im besten Fall 1.421,62 Euro, ein Verlust von 1.040,16 Euro pro Monat.
BEISPIEL 2 Eine 55jährige Asylberechtigte in der Steiermark, die noch nicht gut Deutsch spricht und sich mit dem Lernen schwer tut. Sie spricht Deutsch auf A1-Niveau:
BISHER Alleinstehende in der Steiermark erhalten derzeit 664,11 Euro (75 Prozent) für Lebensunterhalt und maximal 221,37 Euro (25 Prozent) für die Deckung der Wohnkosten.
NEU Da die 55jährige Asylberechtigte nur Deutsch auf A1-Niveau spricht und es durch ihre Lernschwäche unwahrscheinlich ist, dass sie das geforderte B1-Niveau schafft, werden ihr in Zukunft 309,91 Euro (35 Prozent) „Arbeitsqualifizierungsbonus“ abgezogen. Sie käme somit auf nur noch 575,56 Euro im Monat. Sollte sich die steirische Landesregierung dazu entschließen, den Wohnkostenzuschuss von 30 Prozent auszubezahlen, würde sie noch maximal 172,67 Euro dazubekommen. Im besten Fall wäre das Ergebnis also 748,23 Euro im Monat, ein monatlicher Verlust von 137,25 Euro. In der Steiermark werden im Moment keine gesonderten Zuschüsse für Wohnkosten gewährt. Wie das in Zukunft gehandhabt wird, ist offen.
BEISPIEL 3 Subsidiär Schutzberechtigtes Paar (Mitte 30) mit einem Kind in Wien:
BISHER Subsidiär Schutzberechtigte Menschen haben derzeit in Wien Anspruch auf Mindestsicherung. Das sind in Wien für ein Paar mit einem Kind maximal 1.235,24 Euro für Lebensunterhalt und maximal 332,04 Euro für Wohnkosten.
NEU Subsidiär Schutzberechtigte Menschen sollen laut dem Gesetzesentwurf der Regierung keinen Anspruch mehr auf Mindestsicherung haben. Sie fallen in die Grundversorgung. Laut Grundversorgungsgesetz würde die dreiköpfige Familie, wenn sie privat wohnt, nur noch maximal 300 Euro Mietzuschuss und bis zu 530 Euro Verpflegungsgeld erhalten, ein Verlust von 737,28 Euro pro Monat.
BEISPIEL 4 Erwerbstätige Aufstocker-Familie mit niedrigem Einkommen und zwei kleinen Kindern in Wien:
BISHER Der Vater der Familie verdient in seinem Beruf als Hilfsarbeiter 1.300 Euro netto. Die Mutter hat kein Einkommen und betreut die zwei kleinen Kinder. Da das Gesamteinkommen der Familie somit unter dem Mindeststandard 1.806,36 Euro liegt, kann die Familie ergänzende Mindestsicherungsleistungen in der Höhe von 506,36 Euro im Monat in Anspruch nehmen.
NEU Eine Umsetzung des Gesetzesvorschlags, der eine Kürzung für Familien mit Kindern vorsieht, würde bedeuten, dass auch die Familie mit dem berufstätigen Vater verliert. Der Verlust beträgt im vorliegenden Fall bis zu 212,51 Euro im Monat, sofern kein Ausgleich durch einen erhöhten Wohnkostenzuschuss stattfindet.
BEISPIEL 5 Eine 23jährige Frau mit erheblicher Behinderung lebt mit ihrer 54jährigen Mutter im gemeinsamen Haushalt in Wien:
BISHER Eine volljährige Frau mit erheblicher Behinderung, die mit ihrer Mutter in Wien im gemeinsamen Haushalt lebt, bekommt derzeit 747 Euro für Lebensbedarf, 117 Euro für Wohnbedarf und 144 Euro Zusatzleistung aufgrund ihrer Behinderung. Die Mutter hat Anspruch auf 647 Euro für Lebensbedarf und 216 Euro für Wohnbedarf. Gemeinsam kommen sie auf maximal 1.871 Euro im Monat.
NEU Laut dem Gesetzesvorschlag der Bundesregierung soll eine volljährige Frau mit erheblicher Behinderung, die mit ihrer Mutter (mit Pflichtschulabschluss bzw. guten Deutschkenntnissen) im gemeinsamen Haushalt lebt, in Zukunft nur noch maximal 362 Euro für Lebensbedarf und 242 Euro für Wohnbedarf bekommen. Die Zusatzleistung für Behinderung (155 Euro) ist genauso wie der Wohnkostenzuschuss (181 Euro) nur eine optionale Leistung. Die Mutter hätte laut Gesetzesvorschlag Anspruch auf maximal 362 Euro für Lebensbedarf und 242 Euro Wohnbedarf. Der Wohnkostenzuschuss von 181 Euro ist auch bei ihr optional. Werden sowohl Zusatzleistung als auch Wohnkostenzuschüsse gewährt, kämen die junge Frau und ihre Mutter im besten Fall auf maximal 1.725 Euro im Monat, ein Verlust von 146 Euro pro Monat.
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