Für viele keine Wahl
In Österreich sind mehr als 1,5 Millionen Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen, weil sie keine österreichische Staatsbürgerschaft haben. Diese zu erlangen, ist mit vielen Hürden verbunden. SOS Mitmensch war dazu mit dem Projekt „Demokratie für alle“ in der Wiener Schule Anton-Krieger-Gasse.
Text: Salme Taha Ali Mohamed.
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Mit ihren 16 Jahren ist Amra Iseni im wahlfähigen Alter. An der Nationalratswahl am 29. September darf sie aber trotzdem nicht teilnehmen. Denn, obwohl sie in Wien geboren ist und hier ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hat, ist die Schülerin keine österreichische Staatsbürgerin. Stattdessen hat sie wie ihre Eltern die mazedonische Staatsangehörigkeit.
Mit diesem Problem ist Amra jedoch nicht alleine, wie sie heute in der Schule erfährt. Dort, in der Anton-Krieger-Gasse 25, veranstaltete SOS Mitmensch im Juni in Zusammenarbeit mit der Agentur Müllers Freunde und der Arbeiterkammer den Workshop „Demokratie für alle“. Die Schüler:innen lernten, wie Demokratie funktioniert, wie man die Staatsbürger:innenschaft erhält und wer wählen darf.
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DIESES JAHR DÜRFEN NUR RUND 81 PROZENT
DER MENSCHEN IM WAHLFÄHIGEN ALTER WÄHLEN.
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Laut Statistik Austria waren am 1. Jänner 2024 mehr als 7.754.769 Personen in Österreich über 16 Jahre alt. Doch tatsächlich wählen dürfen nur rund 81 Prozent. Die restlichen 19 Prozent sind von diesem Recht ausgeschlossen, weil sie die österreichische Staatsbürgerschaft nicht haben. Diese Zahl ist in den vergangenen Jahrzehnten rapide angestiegen. 2004 waren noch etwas mehr als sieben Prozent der österreichischen Bevölkerung vom Wahlrecht ausgeschlossen. Heute sind es fast dreimal so viel. In manchen Gemeinden ist dieser Missstand größer als in anderen. So besaßen 2023 beispielsweise in Wien mehr als ein Drittel der gesamten Bevölkerung eine ausländische Staatsbürgerschaft – laut dem Statistischen Jahrbuch der Stadt Wien betraf das über 40 Prozent der Bewohner:innen in den Bezirken Margareten, Favoriten, Brigittenau und Rudolfsheim-Fünfhaus. In Wels Betrug der entsprechende Bevölkerungsanteil laut Statistik Austria etwa 32 Prozent, in Innsbruck 31 Prozent, in Linz und Graz jeweils 29 Prozent.
Das stellt die heimische Demokratie vor ein großes Problem. Denn es bedeutet, dass sich eine immer weiter steigende Anzahl hier lebender Menschen an vielen demokratischen Prozessen, wie Wahlen, Volksabstimmungen oder -befragungen, nicht beteiligen können. EU-Bürger:innen können die Bezirksvertretung wählen. Für alle anderen Betroffenen ist nur die Teilnahme an Petitionen möglich.
„Ich will weiterhin in Österreich leben und finde es deswegen nicht gut, dass meine Staatsbürgerschaft mich davon abhält, über meine Zukunft zu entscheiden“, gibt Olivia Wierzbowska zu bedenken. Sie ist Amras Mitschülerin in der Anton-Krieger-Gasse und wurde in Polen geboren. Seit sieben Jahren lebt sie in Wien. Für das Wahlrecht wäre sie auch bereit, die österreichische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Doch der Weg dorthin ist mit vielen Hürden und auch mit hohen Kosten verbunden.
Olivia Wierzbowska und Amra Iseni besuchen die Schule Anton-Krieger-Gasse in Wien. Sie würden gerne in dem Land mitbestimmen, in dem sie leben, zur Schule gehen und später arbeiten möchten.
Zahlreiche Hürden
Grundsätzlich gilt in Österreich das sogenannte Abstammungsprinzip. Dieses besagt, dass man automatisch die Staatsbürgerschaft bekommt, wenn zumindest einer der Elternteile diese besitzt. Alle anderen müssen diese beantragen. Gleichzeitig sind die Voraussetzungen zur Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft so strikt, dass sie für manche Personen ein Ding der Unmöglichkeit ist. Zum einen muss man bereits sechs bis zehn Jahre legal und ununterbrochen im Land gelebt haben. Zum anderen muss man nachweisen können, dass man über einen längeren Zeitraum über ein regelmäßiges eigenes Einkommen verfügt. Dieses muss über dem „Ausgleichszulagenrichtsatz des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes“ liegen und darf nicht mithilfe von Sozialleistungen erreicht werden. Heuer beträgt die Grenze für Alleinstehende 1.217,96 Euro und für Familien in einem gemeinsamen Haushalt 1.921,46 Euro, wobei dazu noch ein Großteil der Wohnkosten und auch Kreditraten hinzugerechnet werden muss. Pro Kind müssen weitere 187,93 Euro netto Einkommen pro Monat nachgewiesen werden. Auch der Prozess an sich kostet Geld: Zusätzlich zur Antragsgebühr von 130 Euro müssen für den Erhalt der Staatsbürgerschaft sowohl Bundes- als auch Landesgebühren bezahlt werden, die sich, abhängig vom Bundesland, auf über 2.000 Euro pro Person summieren können. Wenn man über 14 ist, muss man zudem B1-Deutschkenntnisse vorweisen und einen Wissenstest zu den Grundkenntnissen der demokratischen Ordnung und der Geschichte Österreichs absolvieren. Und: Man muss seine bisherige Staatsbürgerschaft zurücklegen. Angesichts dieser vielen Hürden fordern Organisationen wie SOS Mitmensch, dass die Einbürgerung erleichtert und das Wahlrecht von der Staatsbürgerschaft getrennt wird. Demnach sollen etwa alle Menschen, die ihren Hauptwohnsitz seit rund drei Jahren in Österreich haben, auch wählen können.
SOS Mitmensch veranstaltet dazu auch seit 2013 die „Pass Egal Wahlen“. Die Veranstaltungen finden im Vorfeld von großen Wahlen – beispielsweise der anstehenden Nationalratswahl – statt und erlauben allen in Österreich lebenden Personen, unabhängig ihres Passes, symbolisch ihre Stimme abzugeben. Zur Wahl stehen die gleichen Parteien und Kandidat:innen wie auch beim offiziellen Urnengang. Die „Pass Egal Wahlen“ sollen die offiziellen Wahlen „vervollständigen“ und Menschen, die vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, die symbolische Möglichkeit der Beteiligung geben.
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„ICH WÜNSCHTE, ES WÄRE EINFACHER FÜR MENSCHEN WIE MICH,
DIE HIER GEBOREN WURDEN UND HIER LEBEN WOLLEN“
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Amra und Olivia von der Anton-Krieger-Gasse wollen dieses Mal auch bei der „Pass Egal Wahl“ mitmachen. Davon erfahren haben sie im Demokratie-Workshop. Ihre Erkenntnisse verarbeiteten und präsentierten die Schüler:innen in einer eigenen Zeitung und einem Video.
„Bei uns gibt es viele Kinder, die nicht wählen dürfen. Deswegen war es uns wichtig, auf dieses Thema aufmerksam zu machen“, erklärt Schuldirektor Michael Fleck. „Ich habe gelernt, wie schwer und teuer es ist, eine Staatsbürgerschaft zu bekommen“, resümiert Amra nach dem Workshop. Und: „Ich wünschte, dass es einfacher wäre, vor allem für Menschen wie mich, die hier geboren wurden, zur Schule gehen, und arbeiten und bleiben wollen.“
Salme Taha Ali Mohamed schrieb unter anderem für das biber Magazin, Social Attitude und das uni:view-Magazin der Uni Wien. Aktuell arbeitet sie als Redakteurin für die Wiener BezirksZeitung.
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