
Gefährliche Risse im sozialen Netz
Bei der Absicherung von Unternehmen galt für die Bundesregierung das Motto „Koste es, was es wolle“. Bei armutsgefährdeten Menschen wird hingegen nur zögerlich und lückenhaft gehandelt. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Alexander Pollak, Illustration: Petja Dimitrova
Bei den staatlichen Hilfen für Betriebe wurde von der Bundesregierung nicht gekleckert, sondern geklotzt. Zig Milliarden Euro wurden in den vergangenen Krisenjahren nach dem Motto „Koste es, was es wolle“ ausgeschüttet, auch an Unternehmen, die in dieser Zeit Gewinne gemacht haben. Der Rechnungshof übte scharfe Kritik und ortete ein „beträchtliches Überförderungspotenzial“.
Viel zurückhaltender handelt die Bundesregierung bei der Unterstützung armutsgefährdeter Menschen, die von der Teuerungsdynamik besonders betroffen sind. Damit riskiert die Politik, dass einem Teil der Bevölkerung der Boden unter den Füßen weggezogen wird.
Laut Statistik Austria sind derzeit mehr als 200.000 Menschen in Österreich besonders stark von Armut betroffen. Das ist ein Anstieg um 40.000 Personen in nur einem Jahr. Eine Studie der Caritas und von SORA zeigt, was sich im Alltag für immer mehr dieser Armutsbetroffenen finanziell nicht mehr ausgeht: warmes Wohnen, vollwertige Mahlzeiten, intakte Kleidung und der Zugang zu einem Minimum an Mobilität. Darüber hinaus drohen Verschuldung, Abhängigkeit und permanente Angst.
Die Bundesregierung wollte lange Zeit keine Armutskrise erkennen. Sozialminister Johannes Rauch sprach von nur einem „geringen Anstieg der Armut in Österreich“, wiewohl er zugestand, dass „strukturelle Maßnahmen“ notwendig seien, „um insbesondere Arbeitslose und Alleinerziehende vor Armut zu schützen“. Gänzlich abwehrend trat Verfassungsministerin Karoline Edtstadler auf. Auf Twitter hielt sie ein flammendes Plädoyer gegen „mehr Staat“ zur Sicherung von „sozialer Gerechtigkeit“. Sie sprach von Menschen, „für die es sich mehr auszahlt, arbeitslos zu sein und ein bisschen etwas dazuzuverdienen, als normal arbeiten zu gehen“ und sie bezeichnete die „Armut von Kindern in Österreich“ als etwas lediglich „Angebliches“. Einen „Vollkasko-Staat“, bei dem insbesondere Reiche zahlen, hält sie für „nicht gerecht“.
Eine Prioritätensetzung, die Krisenzeiten nur ernst nimmt, wenn es Unternehmen betrifft, aber nicht, wenn es um armutsgefährdete Menschen geht, ist verstörend und gefährlich. Fast schon verzweifelt versuchen Expert*innen die Regierung zum raschen Handeln zu bewegen. Christoph Badelt, Chef des Fiskalrats, forderte, das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe zumindest temporär zu erhöhen, um Betroffene durch die Teuerung nicht in existenzielle Nöte zu stürzen. WIFO-Chef Gabriel Felbermayr plädiert für eine temporär gestaffelte Mietpreisbremse. Und der Sozialexperte Martin Schenk fordert eine Abkehr von der unter Türkis-Blau nach oben hin gedeckelten Sozialhilfe, zurück zur abgeschafften Mindestsicherung, die zusätzliche Hilfen in akuten Krisensituationen ermöglicht hat.
Nach langem Zögern hat die Regierung nun ein Paket geschnürt, das die Armutsbetroffenheit von Kindern abfangen soll. Bis Ende 2024 wird an Bezieher*innen von Arbeitslosengeld, Notstandshilfe, Sozialhilfe sowie an geringverdienende Alleinerziehende ein zusätzlicher Betrag von 60 Euro pro Monat ausbezahlt. Der österreichische Sozialstaat gehört noch immer zu den besten der Welt. Das ist ein Hauptgrund, warum Österreich eines der lebenswertesten und sichersten Länder ist. Die Bundesregierung setzt das mit ihrem zögerlichen Handeln und der bei manchen durchklingenden abschätzigen Betrachtung von Armutsbetroffenen fahrlässig aufs Spiel.
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