Gestern Corona, heute das Klima?
Wie eine neue Teilöffentlichkeit und Verschwörungserzählungen dem Rechtsruck in die Karten spielen.
Text: Sophia Reiterer.
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Während der Covid19-Pandemie begannen einige Menschen, sich politisch zu engagieren, weil sie erstmals selber von Einschränkungen betroffen waren. Alltägliche Praktiken, wie ins Restaurant zu gehen oder einzukaufen, waren plötzlich politisch. Seither sind viele derjenigen, die damals gegen Maske, Lockdowns und Co. auf die Straße gingen, immer noch politisch aktiv und setzen sich für ihre ganz individuelle Freiheit ein – auch wenn diese auf die Kosten der Allgemeinheit oder der Demokratie geht, wie es die deutschen Soziolog:innen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in ihrem Buch „Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus“ (Suhrkamp, 2023) beschreiben. Angesichts der Komplexität verschiedener Krisen tendieren Menschen dazu, eine einfache Erklärung zu suchen. Bill Gates, China oder Reptiloiden sind dann schnell verantwortlich für Pandemien oder gesellschaftliche Ungleichheiten.
Für ihre ganz individuelle Freiheit gingen Menschen während der Corona-Pandemie auf die Straße und vernetzten sich über Kanäle wie Telegram, die bis heute bestehen.
Doch wie sieht es heute damit aus? Die Bundesstelle für Sektenfragen führte bis September 2023 ein systematisches Online-Monitoring von einem Netzwerk aus 287 Telegram-Kanälen durch, das während der Covid19-Pandemie entstanden ist. „Mit der Pandemie und dem Einsetzen der Maßnahmen sind die Kanalneugründungen auf Telegram in die Höhe geschnellt“, berichtet Felix Lippe, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Bundesstelle für Sektenfragen. Dadurch sei eine neue Teilöffentlichkeit entstanden, die es vorher in dieser Form noch nicht gegeben hatte.
Telegram werde Lippe zufolge nicht nur als Messenger genutzt, sondern vor allem als One-to-many-Kommunikationsform, in der etwa das rechtsextreme Medium „Auf1“ ein Video postet, das den 270.000 Abonnent:innen des Kanals in die Timeline gespült würde. „Widerspruch oder Diskussionen gibt es unter den Posts kaum“, merkt Lippe an.
Auch nach den Lockdown-Zeiten bestehe das Netzwerk heute noch. „Wir sehen als häufigstes Thema den Widerstand gegen ein ‚repressives bzw. illegitimes System‘“, stellt Felix Lippe fest. Die Kanäle versuchen, die Menschen zu mobilisieren, wieder auf die Straße zu gehen. Daher besetzen sie neue tagespolitische Felder: der russische Angriffskrieg in der Ukraine, Klima und Umwelt, Asyl und Migration sowie Gender und LGBTQIA+. Diese Themen werden in große Verschwörungserzählungen eingeflochten. „Asylsuchende und queere Menschen sowie Klima-Aktivist:innen werden dämonisiert und in den Erzählungen instrumentalisiert, um ein schwarz-weißes Weltbild zu zeichnen, ohne das Verschwörungstheorien nicht auskommen“, sagt Felix Lippe.
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„EXTREMISTISCHE ATTENTÄTER BERIEFEN SICH AUF
POPULÄRE VERSCHWÖRUNGSERZÄHLUNGEN“
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Auch im Digital Report des deutschen Else-Frenkel-Brunswik-Instituts und der Amadeu Antonio Stiftung vom Juni 2023 untersuchten die Autor:innen Telegram-Kanäle von rechtsextremen Akteur:innen. Obwohl die Studienergebnisse sich auf das deutsche Bundesland Sachsen beziehen, sind sie doch symptomatisch für die Verbreitung und Vernetzung von Verschwörungserzählungen. Sie decken sich auch mit den Ergebnissen des Online-Monitorings der Bundesstelle für Sektenfragen in Österreich. „In Verschwörungserzählungen werden immer neue Feindbilder identifiziert“, sagt Lippe. Wenn jemand zum Beispiel an die Erzählung des ‚großen Austauschs‘ glauben würde, demzufolge globale Eliten die europäische Bevölkerung durch ‚Migrationsströme‘ schwächen und ‚austauschen‘ wollen, „dann glaubt diese Person auch, dass Asylsuchende und Migrant:innen eine Gefahr darstellen.“ Für Menschen aus den Communitys haben solche Annahmen realweltliche Konsequenzen: Sie werden öffentlich beleidigt oder angegriffen. „Extremistische Attentäter, wie etwa in Christchurch oder Hanau, beriefen sich in ihren Manifesten auf populäre Verschwörungserzählungen, um ihre Gewalt als ‚Selbstverteidigung‘ zu legitimieren“, gibt Lippe zu denken.
2022 veröffentlichten die Soziolog:innen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey ihr Buch „Gekränkte Freiheit“. Mehrere Jahre lang befragten sie 1150 sogenannte Querdenker:innen in einer Online-Umfrage, führten 45 ausführliche Interviews, beobachteten viele Demonstrationen und analysierten verschiedene Telegram-Kanäle. Laut Autor:innen gehen Anhänger:innen des libertären Autoritarismus auf die Straße, um „lautstark für individuelle Freiheiten“ zu streiten: „Etwa frei zu sein von Rücksichtnahme, von gesellschaftlichen Zwängen – und frei von gesellschaftlicher Solidarität.“ Diese Strömung des libertären Autoritarismus, die im Zuge der Corona-Proteste richtig Fahrt aufgenommen hat, bietet Nährboden für rechtspopulistische bzw. rechtsextreme Parteien. Sie nehmen Themen und die Rhetorik auf und skandieren etwa wie AfD-Politikerin Alice Weidel: „Ich lass mir mein Schnitzel nicht wegnehmen.“
Bei Media Literacy dürfe man nicht auf ältere Zielgruppen vergessen, meint Felix Lippe.
Auch Felix Lippe unterstreicht, dass rechte Parteien die Themen gezielt aufgreifen und zur Wähler:innenmobilisierung nutzen: „Verschwörungserzählungen, wie jene einer ‚Einheitspartei‘ aus SPÖ, ÖVP, Neos und Grünen, die mit den ‚Systemmedien‘ zusammenarbeiten, stützen das Bild von David gegen Goliath, das bei vielen Wähler:innen gut ankommt.“ Im Telegram-Netzwerk fänden sich Menschen aus ganz unterschiedlichen Milieus: Menschen, die sich mit Esoterik oder Spiritualität befassen, parlamentarische Parteien, Medien wie Auf1 oder Report24 und rechtsextreme Akteur:innen.
Schon allein durch die Größe einiger Kanäle würden demokratiefeindliche Ansichten in den gesellschaftlichen Diskurs gespült. Dabei ist es Lippe zufolge nicht so relevant, wie viele Menschen in Österreich Teil des Telegram-Netzwerks sind: „Ob das Telegram-Netzwerk eine kritische Masse ausmacht, haben wir nicht erhoben. Allerdings kann es durchaus sein, dass ein Video von Auf1 mehr Aufrufe erzielt als ein ORF-Beitrag.“
Auf einer gesellschaftlichen bzw. medialen Ebene sei es laut Felix Lippe wichtig, weiter hinzuschauen und die Szene zu beobachten. Vielleicht werde Telegram in einiger Zeit keine Rolle mehr spielen, aber die Szene werde sich weiterhin digital vernetzen. Wichtig seien auch digitale Ansätze aus der Extremismusprävention, die mit gezieltem Widerspruch in den Kanälen arbeiten. „Letztlich ist Media Literacy der Schlüssel“, meint Lippe. Die Zielgruppe von Medienbildung seien in der Vergangenheit oft Kinder und Jugendliche gewesen. „Eine wichtige Zielgruppe, nämlich Menschen über 45, wurde dabei vergessen und ist aktuell doch so relevant“, schließt der Experte.
Sophia Reiterer ist Doktorandin der Kommunikationswissenschaft an der Universität Salzburg und Projektmitarbeiterin bei Wissenschaft und Kunst. Ihre Themen sind Ungleichheit, Gender, Cultural Studies und Intersektionalität.
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