
Heute wollen die meisten Menschen für sich selbst sprechen
Erst aus wechselseitiger Anerkennung kann Vertrauen entstehen, sagt Rotraud Perner. Die Psychotherapeutin im Gespräch über unseren Umgang mit dem Fremden und die Schwierigkeiten, sich Veränderungen zu stellen. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Michael Kirchdorfer
Frau Perner, Österreich hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert, die Gesellschaft ist vielfältiger geworden, durch den EU-Beitritt wohl auch offener. Ein Teil freut sich darüber, ein anderer Teil empfindet das eher als Heimatverlust. Woran liegt das, warum tun wir uns mit Veränderungen scheinbar schwer?
Die Österreicher*innen sind generell ein auf Sicherheit und damit Ordnung und Überschaubarkeit bedachtes Volk – außer die paar „Wilden“ von den Bergen, also Tirol und Steiermark. Die sind flexibler und wagemutiger – wenn es um ihren eigenen Widerstand geht. Beides sind aber keine Voraussetzungen für vorauseilende Offenheit gegenüber dem Neuen und dem Fremden – das muss erst langsam erarbeitet werden.
Wie geht Österreich mit dem Thema Migration um? Damit kann man immer noch Stimmen bei politischen Wahlen machen. Woher kommt die Emotion?
In Österreich haben wir zwei historische Traditionen: einerseits die aus dem Vielvölkerstaat der k.u.k. Monarchie stammende Überheblichkeit auf die eine oder andere „Nationalität“ herabzusehen (und umgekehrt), und andererseits die NS-Mythologie vom arischen Herrenmenschen – Nietzsches „blonder Bestie“, die gut dazu passt. Beides enttarnt sich als eine Methode, sich über andere zu erhöhen. Gründe dafür können sein, dass sich jemand im Selbst nicht akzeptiert, aufgrund fehlender Wertschätzung im Elternhaus oder in der Schule. Erst wenn ehrliche gegenseitige Anerkennung entstanden ist – etwa von „Fremden“ oder neu hinzugekommenen Menschen im Wohnhaus, am Arbeitsplatz oder im Grätzel – erst dann entwickelt sich Vertrauen und eine Art von Wir-Gefühl. Sprechen – und vor allem ansprechen – erfordert wie jede Form des Lernens Vorbilder, Übung und Anerkennung. Nur so bilden sich Wahrnehmungs- und Handlungsnervenzellen. Deswegen ist ja Elementarpädagogik so wichtig: daheim lernen das die wenigsten Menschen. In der Schule ist es bereits zu spät, da sind schon viel zu viele mediale Vorbilder als quasi Mentaltraining eingespeichert.
Auch die katholische Kirche hat an Einfluss verloren, als eine Institution, die lange fast für die gesamte Bevölkerung gesprochen hat. Es gibt mehr Atheisten und andere Religionsgemeinschaften, und sicherlich auch einen Schwund an Glaubwürdigkeit bei der Kirche. Geht hier Halt verloren, den Menschen vielleicht gerade in Zeiten der Veränderung bräuchten?
Heute wollen doch die meisten Menschen für sich selbst sprechen und sind früher oder später autoritätskritisch, daher auch gegenüber Glaubensgemeinschaften – außer diese bedienen das Bedürfnis nach der oben angeführten Überheblichkeit über „Ungläubige“. Dieses Phänomen gibt es nach wie vor auch in der katholischen Kirche, auch wenn sich da seit dem Aggiornamento von Johannes XXIII doch einiges geändert hat, denken Sie etwa an die Bewegung „Wir sind Kirche“. Aber die Gegenkräfte sind auch aktiv. Wir Psychoanalytiker*innen wissen: wenn Bewegung entsteht, taucht sofort auch Widerstand auf.
Bei allen Veränderungen gibt es auch Konstanten. Etwa das Patriarchat. Angesichts ungleicher Löhne oder Politik- und Wirtschaftsrunden, die ganz selbstverständlich vorwiegend von Männern besetzt sind, von verschwindend geringen Karenzzeiten bei Männern oder auch der Frauenmorde in Österreich. Wie würden Sie so ein Land beschreiben? Sind wir in unserem Selbstbild besser, als der Status quo?
Der „Selbstsschutzmechanismus“ sich selbst zu überschätzen, ist weit verbreitet. Der amerikanisch-israelische Psychologe und Verhaltensökonom Dan Arielly hat das in vielen Experimenten nachgewiesen. Wirklich selbstsichere Männer brauchen keine „minderwertigen Vergleichsmenschen“, keine Frauen und keine Migranten (bzw. umgekehrt „schwachen“ Europäer) oder sonst wie diversen Menschen. Nur: wirkliche Selbst-Sicherheit hängt auch von den sozialen Lebensbedingungen ab, von Chancengleichheit und damit vor allem von Fairness.
Perner: „Erst wenn gegenseitige Anerkennung entstanden ist, entwickelt sich Vertrauen.“
Glauben Sie, spielt Angst vor Veränderungen eine Rolle, in einem Land, das lange sehr nach innen orientiert war? Nicht zuletzt sagt man ja auch von rechtspopulistischen Parteien, sie arbeiten mit der Angst. Worin ist diese begründet?
Also mit schnellen Veränderungen vernünftig umzugehen ist etwas, das zu erlernen auch Übung und Zeit braucht. Eigentlich wird man in der Schule noch immer auf fremddefiniertes Wohlverhalten trainiert. Abgesehen von den Inhalten hat sich ja im sogenannten „sozialen lernen“, seit Maria Theresia die Unterrichtspflicht eingeführt hat, nicht viel verändert. Respekt sollen immer die anderen leisten aber nicht die sogenannten Autoritäten. Deswegen taucht ja nach wie vor bei Krisen das Bild vom „starken Mann“ auf – der aus Familienerfahrung gewohnt fehlenden Vaterfigur. Alles, was nicht „aus der Familie“ kommt, wird hingegen abgelehnt … außer man kann es im Supermarkt kaufen und essen.
Stichwort Angst vor Veränderung: Sehen Sie eine Korrelation zum Thema Migration und Corona? Erkennen Sie bei Corona psychologische Muster, wie man sie auch beim angstbesetzten Thema „Migration“ benutzt und an der Art, wie wir mit Krisen umzugehen gelernt haben?
Für mich sind das alles – psychoanalytisch gedeutet – „Verschiebungen“ von durchaus berechtigten Ängsten „nach oben“, also auf „Elternfiguren“, sprich „Regierende“, die man beschuldigen kann, sich nicht genug zu sorgen. Dass man unter Krisenbedingungen „regrediert“, also in emotionale Verhaltensweisen zurückfällt wie seinerzeit als Kind, ist normal. Denken wir nur daran, wie es uns geht, wenn wir krank sind oder uns in einer Situation juristischer Ohnmacht befinden. Wenn man aber sachlich nachdenkt, merkt man bald, wer mit welchen medialen Mitteln welche Denkweisen verbreitet und welche Vorteile damit erreicht werden sollen. Das sind vor allem politische.
Wie soll man damit umgehen?
Für mich ist es eine Frage der persönlichen Ethik, wie man sich selbst positioniert. Mir ist wichtig, Ängste ernst zu nehmen, mich nicht auf psychologische „Kriegsspiele“ zwischen zwei künstlich geschaffenen „Lagern“ einzulassen, sondern an konkreten Lösungen zu arbeiten. Deswegen lehne ich auch sloganartige Wortverkürzungen zur Etikettierung für Menschen, die anderer Meinung sind, ab. Daran, wie im Web über Corona diskutiert wird, kann man erkennen, ob es sich dabei um Sympathisant*innen oder Funktionär*innen bestimmter ideologischer Richtungen handelt, die in anonymen Foren mit ähnlichen Narrativen um Gleichgesinnte werben.
Rotraud Perner ist Juristin und Psychoanalytikerin. Sie hat 2015 den Master in evangelischer Theologie gemacht. Sie hat acht Jahre lang als volkswirtschaftliche Referentin in der Österreichischen Nationalbank gearbeitet. Sie hat zahlreiche Initiativen gesetzt und Projekte gegründet, u.a. die Familienberatungsstelle Favoriten (1975), das Gemeinwesenarbeit-Projekt „Club Bassena“ (1978), die „1. Wiener Sozialberatungsstelle“ (1987) oder den Verein „Die Möwe“ (1990), der mit physisch, psychisch und sexuell misshandelten Kindern arbeitet. Zahlreiche Publikationen, zuletzt: Friedenserziehung in der Elementarpädagogik (2021).
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