„Ich hätte nie gedacht, dass mir das einmal passiert“
Knapp 20.000 Menschen sind in Österreich wohnungs- oder obdachlos. Hilfsorganisationen rechnen mit einem Anstieg der Zahlen in den kommenden Jahren. Was kann, was muss getan werden?
Text und Fotos: Milena Österreicher.
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Nennts mich Josef, Sepp oder Beppo, wie ihr wollts“, stellt sich unser Tourguide vor. Josef nimmt uns an diesem Herbsttag mit auf eine Führung der Organisation Shades Tours durch den ersten Bezirk. Perrine Schober gründete im Jahr 2015 die Organisation nach dem Vorbild ähnlicher Initiativen in London, Barcelona und Berlin. Ehemals obdachlose Menschen führen durch die Stadt und sprechen über das Leben auf der Straße.
Shades Tours-Guide Josef führt Interessierte durch die Wiener Innenstadt und erzählt vom Leben auf der Straße.
Der erste Stopp führt uns auf einen kleinen Platz im ersten Bezirk. Rund um uns Häuser. Schicke Einrichtung und Kronleuchter lassen sich in den Wohnungen erspähen. Durch eines der Fenster dringt laut klassische Musik. „Hier könnte ich mir nicht einmal einen Balkon leisten“, scherzt Josef. Früher sei dies ein beliebter Schlafplatz gewesen. Die Polizei ließ den Platz mehrmals räumen, Störung des öffentlichen Raumes.
Wohnungs- oder obdachlos
Laut Statistik Austria sind rund 20.000 Menschen in Österreich als obdach- oder wohnungslos registriert, mehr als die Hälfte der Betroffenen in Wien. Die Dunkelziffer wird höher geschätzt.
Obdachlos und wohnungslos ist nicht dasselbe. Obdachlos zu sein, bedeutet auf der Straße zu leben, in Notquartieren zu schlafen, kein fixes Obdach zu haben. „Das sind die Menschen, die im öffentlichen Raum gemeinhin als sichtbar obdachlose Menschen wahrgenommen werden“, erklärt mir Daniela Unterholzner in einem Telefonat. Sie ist Geschäftsführerin von neunerhaus, einer Sozialorganisation in Wien, die obdach- und wohnungslose Menschen unterstützt.
Wohnungslose Menschen sind hingegen jene, die in der Wohnungslosenhilfe Dienste in Anspruch nehmen, weil sie prekär wohnen, zum Beispiel ohne ein gesichertes Mietverhältnis oder in Wohnwägen – also in keiner Wohnform, die auf langfristiges Wohnen ausgelegt ist. Zudem gibt es versteckte Wohnungslosigkeit, die häufig bei Frauen vorkommt. Hier übernachten Betroffene kurz- oder langfristig bei Bekannten, ziehen zurück ins Elternhaus oder bleiben in Partnerschaften, die von Abhängigkeiten und Gewalt geprägt sind, um nicht auf der Straße zu landen. „Das sind Menschen, die im Stadtbild nicht auffallen und in keiner Statistik aufscheinen. Das ist wichtig, bei diesem Thema zu verstehen“, sagt Daniela Unterholzner.
Viele Gründe
Warum werden Menschen obdach- bzw. wohnungslos? Die eigene Firma geht pleite, der Partner ist gewalttätig, die Miete nicht mehr bezahlbar, eine chronische Erkrankung bricht aus, die Spielsucht dominiert den Alltag, Schulden häufen sich an, durch eine Scheidung ist das Zuhause weg, die Familie bricht den Kontakt ab. Gründe gibt es viele, treffen kann es alle.
Rund 20.000 Menschen sind in Österreich offiziell obdach- oder wohnungslos, mehr als die Hälfte davon in Wien. Durch die Krisenjahre wird nun mit einem Anstieg der Zahlen gerechnet.
Laut einer Befragung von Statistik Austria von 2022 durchlebten bereits sechs Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Österreich eine Phase der Wohnungslosigkeit. „So viele Menschen, die zu uns kommen, sagen: Ich hätte nie gedacht, dass mir das einmal passieren wird“, berichtet die neunerhaus-Geschäftsführerin.
Auch Tourguide Josef erzählt uns von dem Jahr, in dem seine Partnerin plötzlich verstarb. Nach dem Schicksalsschlag kam eine Phase der Arbeitslosigkeit. Später folgten zahlreiche Hilfsjobs als Staplerfahrer, Tapezierer, Aushilfskraft. „Das halbe Branchenbuch habe ich durch“, sagt er. Für eine eigene Wohnung reichte es nicht.
Josef schlief zunächst in Notschlafstellen. Eine psychische Belastung, denn zur ungewissen Frage, wo die nächste Nacht verbracht werden kann, kommen manchmal auch Aggressionen und Diebstähle unter den Bewohner:innen.
In Österreich hat jedes Bundesland ein eigenes Sozialgesetz, dementsprechend auch unterschiedliche Regelungen für obdachlose Menschen. In Wien können Menschen ohne gemeldete Wohnadresse sich an das P7, das Wiener Service für Wohnungslose der Caritas, wenden. Dort bekommen sie eine Nächtigungskarte für eine Notschlafstelle. Zunächst jeweils für eine Nacht, später auch für einen längeren Zeitraum.
Nachwehen der Pandemie
Während der Covid-Pandemie ist die Zahl der obdach- oder wohnungslosen Menschen gesunken, da es unter anderem einen Delogierungsstopp gab. Die Krisen würden sich in der Wohnungslosenhilfe erst Jahre später abzeichnen, erklärt die neunerhaus-Geschäftsführerin Daniela Unterholzner. Zwischen dem Finanzkrisenjahr 2008 und 2013 ist die Zahl der registrierten Betroffenen um ein Drittel auf damals 25.000 Personen gestiegen. „Wir gehen davon aus, dass sich nun in den nächsten Jahren die Zahl wieder stark erhöhen wird“, vermutet Unterholzner. Die Wohnungslosigkeit sei in den letzten Jahren jünger, weiblicher und internationaler geworden.
Mehr leistbaren Wohnraum fordert neunerhaus-Geschäftsführerin Daniela Unterholzner.
Desto breiter die Schere zwischen realen Nettoeinkommen und den Wohn- und Mietkosten wird, desto höher die Wahrscheinlichkeit, aus dem System herauszufallen und auf Wohnungslosenhilfe angewiesen zu sein. Auch die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen trägt zur Lage bei. „Die Zahl könnte sich insgesamt wieder um ein Drittel erhöhen – je nachdem, wie mit der Krise auf politischer Ebene umgegangen wird“, sagt Daniela Unterholzner. Denn schon jetzt ist jede:r Fünfte in Österreich armutsgefährdet. Es müsse an den strukturellen Rahmenbedingungen geschraubt werden, vor allem leistbarer und zugänglicher Wohnraum geschaffen werden.
Tierische Begleiter
Auf unserer Tour gehen wir mit Josef weiter am Café Neko in der Blumenstockgasse vorbei. Dort haben fünf ehemalige Straßenkatzen ein vorübergehendes Zuhause gefunden und werden von Besucher:innen bewundert und gestreichelt. „Warum haben so viele obdachlose Menschen Haustiere bei sich?“, fragt Josef passend dazu in die Runde. Gesellschaft, Sicherheit und Wärme lautet die richtige Antwort. In vielen Notschlafstellen sind Haustiere verboten, was mit ein Grund ist, warum manche es bevorzugen, im öffentlichen Raum zu schlafen.
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WÄHREND DER PANDEMIE IST DIE ZAHL GESUNKEN,
DA ES EINEN DELOGIERUNGSSTOPP GAB.
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Wichtig ist ein Obdach mittlerweile allerdings auch geworden, um sich vor An- und Übergriffen zu schützen. Im vergangenen Sommer machten Attacken auf obdachlose Menschen in Wien Schlagzeilen. Ein Mann wurde in der Josefstadt mit dem Messer attackiert und erlag seinen Verletzungen. Ein anderer Mann wurde schlafend auf einer Parkbank am Handelskai erstochen. In der Leopoldstadt wurde eine Frau durch Stiche schwer verletzt.
Zuerst wohnen
Was kann gegen Obdachlosigkeit getan werden? „Zuerst eine eigene Wohnung und dann alles andere“, sagt Daniela Unterholzner. Die Organisation neunerhaus verfolgt seit 2012 gemeinsam mit dem Fonds Soziales Wien das sogenannte Housing First-Prinzip. Privatsphäre, ein eigener Mietvertrag und individuelle Betreuung ermöglichen, sich ohne permanenten Stress auf die nächsten Schritte zu konzentrieren.
Dazu vermittelt neunerhaus mit dem eigens gegründeten Tochterunternehmen neunerimmo Betroffenen Wohnungen in ganz Wien. Die Mieter:innen werden je nach Wunsch und Bedarf von Sozialarbeiter:innen, Fachkräften für psychosoziale Gesundheit und Peers, die selbst Wohnungslosigkeit erlebt haben, unterstützt. „Das ist das unstigmatisierendste Modell. Ihr Nachbar oder Ihre Nachbarin könnte Klient:in von uns sein, Sie würden es nicht wissen“, sagt Unterholzner. Laut neunerhaus leben 93 Prozent der Menschen, die so eine Wohnung bekommen haben, nach drei Jahren weiterhin noch stabil darin.
Braucht jemand noch engmaschigere Betreuung, gibt es Zimmer in betreuten Wohnhäusern. Auch hier zahlen die Bewohner:innen eine leistbare Miete. Einziehen können Bezugsberechtigte, das heißt obdachlose Menschen, die 5 Jahre durchgängigen Wohnsitz in Wien oder zwei Jahre Arbeit in der Bundeshauptstadt vorweisen können. Um Nichtbezugsberechtigte kümmert sich die Vinzirast.
Die Stadt mal anders
Auch Josef wohnte zunächst in einem Zimmer der betreuten Wohnhäuser, bis letztes Jahr eine neunerhaus-Wohnung sein neues Zuhause wurde. Mit den Führungen bei Shades Tours verdient der Pensionist sich geringfügig etwas hinzu. „Außerdem macht’s mir eine Freude“, sagt der Tourguide.
Unsere Tour beenden wir heute im Wiener Stadtpark. Die Dunkelheit ist bereits hereingebrochen, die Abendluft beginnt zu klirren. Josef raucht noch zusammen mit ein paar Teilnehmenden eine Zigarette und beantwortet letzte Fragen. „Machts es gut“, sagt Josef zum Abschied.
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